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Gewerkschaften weltweit

Verhaftung, Gewalt, Mord: Gewerkschafter:innen in Lebensgefahr

Erschütternde Zahlen im globalen Rechtsindex des IGB. Erfahrungsbericht von den Philippinen.

Der Anfang Juli veröffentlichte 10. Rechtsindex zur globalen Situation von Arbeitsrechten (2022) bestätigt in ernüchternder Art und Weise, warum der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB/ITUC) vor Jahrzehnten damit begann, Menschenrechts- und Arbeitsrechtsverletzungen aufzulisten und öffentlich zu machen: untersagte Tarifverhandlungen (in 79% aller Länder) und Streiks (87%), eingeschränkte Rechte auf Rede und Versammlungsfreiheit (65%) und das Verbot, Gewerkschaften zu gründen oder ihnen beizutreten (77%) sowie sich an gewerkschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen (73%) - die Liste der Regierungen und Konzerne, die Gewerkschafts- und Arbeitnehmer:innenrechte mit Füßen treten, ist nicht nur beschämend, sie wird auch immer länger und geht bis hin zu gewaltsamen Angriffen: In 44 Ländern waren Beschäftigte und Gewerkschafter:innen Gewalt ausgesetzt, in 69 Ländern wurden sie festgenommen und inhaftiert. In acht Ländern wurden Gewerkschafter:innen ermordet.

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Philippinen: 68 Tote in acht Jahren

Für Kara T. aus Manila gehören Horrormeldungen wie diese zum Alltag. Die Philippinen gehören laut aktuellem globalen Rechtsindex einmal mehr zu den zehn schlimmsten Ländern für erwerbstätige Menschen. Was das für Gewerkschafter:innen bedeutet, erlebt sie ständig. Sie selbst sei erst einmal festgenommen worden, vor einigen Monaten, weil sie einen Protest der Verkehrsbediensteten in ihrer Heimat organisiert hatte. „Nach 30 Stunden konnte ich wieder gehen. Ich sage: Es war nur eine Nacht“, relativiert die zierliche 25-Jährige, die an der internationalen, von ÖGB und IGB organisierten und von der AK unterstützten Trade Union School Austria (ITUSA) teilnimmt. Vielen Kolleg:innen wäre es nämlich weitaus schlimmer ergangen, erzählt sie und kramt aus ihrer Hosentasche einen Zettel, auf dem sie Zahlen addiert hat: 68 Menschen auf den Philippinen wurden seit 2016 getötet, weil sie sich für Kolleg:innen eingesetzt hatten. 41 waren oder sind länger inhaftiert, mehr als 100 Gewerkschafter:innen oder Arbeitnehmer:innen wurden, so wie sie, bei Aktionen festgenommen, um sie kurzfristig hinter Gitter zu bringen.

 

Gewerkschafter:innen verschwinden spurlos

Es komme auch vor, dass die Polizei Gewerkschaftsbüros stürme und Leute mitnehme. Wer dann länger einsitzen muss, wird mit falschen Zeugenaussagen von Polizist:innen belastet, denen vor Gericht Glauben geschenkt wird. „Meistens ist die Rede von illegalem Waffenbesitz, oder von Drogen“, erzählt Kara von einem Kollegen, der sich nichts zuschulden kommen hat lassen außer für bessere Bezahlung von Arbeiter:innen einzutreten und dafür seit sechs Jahren im Gefängnis ist.

Sehr nahe gehen ihr auch die Los Desaparecidos, auf Deutsch: die Verschwundenen. Gewerkschafter:innen, die von einem Tag auf den anderen wie vom Erdboden verschluckt sind. „Niemand weiß, wo sie sind, niemand hat etwas von ihnen gehört“, erzählt sie leise, dass sie das auch in ihrem unmittelbaren Arbeitsumfeld erlebt hat. Von vier ihrer Kollegen fehlt seit dem Vorjahr jede Spur.

 

Kein aussichtsloser Kampf – Bewusstsein schaffen

Was treibt diese furchtlos wirkende junge Frau an, woher nimmt sie ihren Mut? „Man muss etwas tun gegen diese Übermacht“, antwortet sie fast erstaunt über diese Frage, und erzählt, dass ihre Eltern, der Vater Gewerkschafter, die Mutter Menschenrechtsaktivistin, ihr dieses Gefühl der Menschlichkeit vorgelebt haben. Und obwohl sich die Situation nur langsam bessert, glaubt Kara an den Erfolg des gewerkschaftlichen Kampfes. Vom neuen Präsidenten, einem Sohn des berüchtigten Diktators Marcos, sei keine Änderung zu erwarten, obwohl er zum Amtsantritt im Vorjahr Verbesserungen angekündigt habe, meint Kara. Aber auch immer mehr Journalist:innen und Anwält:innen, denen das gleiche Schicksal drohe wie Gewerkschafter:innen, wenn sie sich nicht regierungskonform verhalten, wollen sich nicht mehr einschüchtern lassen. „Einen aussichtslos scheinenden Kampf kann man auch dadurch gewinnen, wenn man Bewusstsein für die Probleme schafft“, ist die junge Frau überzeugt.

 

Man muss sich ja um Arbeitnehmer:innen kümmern

Tarif- oder Lohnverhandlungen wie in anderen Ländern und Kontinenten gibt es auf den Philippinen außer in einigen Fabriken nicht, aber Gewerkschaften kämpfen dafür. Kara ist außerdem beeindruckt von Betriebsräten, die man auf den Philippinen auch nicht kennt, von deren Arbeit sie aber beim Austausch mit den Kolleg:innen aus aller Welt bei der ÖGB Sommerakademie viel Beeindruckendes gehört habe. Dieses System würde auch in ihrer Heimat Sinn machen. Mit der Antwort auf die vorsichtige Frage, ob sie es für realistisch hält, Betriebsräte auf den Philippinen einzuführen, lässt sie sich ein wenig Zeit, ehe sie lächelnd meint: „Warum nicht? Wir müssen uns ja um Arbeitnehmer:innen kümmern. Alles kann man ändern, auch wenn es manchmal mehr Zeit braucht.“