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Frauen werden anders krank als Männer: Miriam Hufgard-Leitner (l.) und ÖGB-Gesundheitsexpertin Claudia Neumayer-Stickler erklären, was sich im Gesundheitswesen ändern muss und warum Gendermedizin wichtig ist.
Frauen werden anders krank als Männer: Miriam Hufgard-Leitner (l.) und ÖGB-Gesundheitsexpertin Claudia Neumayer-Stickler erklären, was sich im Gesundheitswesen ändern muss und warum Gendermedizin wichtig ist. Christoph Altenburger

Gendermedizin

Gesundheit darf keine Geschlechterfrage sein

Frauen leben zwar länger als Männer, dafür viele Jahre bei schlechter Gesundheit. Gendermedizinerin Miriam Hufgard-Leitner und ÖGB-Gesundheitsexpertin Claudia Neumayer-Stickler erklären, was sich im Gesundheitswesen ändern muss und wie Gendermedizin das Leben aller Geschlechter verbessert.

Was genau ist Gendermedizin?

Hufgard-Leitner: Gendermedizin untersucht die Auswirkungen von „sex“, also dem biologischen Geschlecht, und „gender“, dem sozialen Geschlecht, auf Gesundheit und Krankheit des einzelnen Menschen. Konkret heißt das, wie sich Körperfunktionen zwischen den Geschlechtern auf biologischer Ebene unterscheiden und wie sich die gleiche Erkrankung zwischen den Geschlechtern unterschiedlich zeigt.

 

Warum ist das so wichtig?

Neumayer-Stickler: Es gibt dafür einfach noch zu wenig Bewusstsein bei vielen, die im Gesundheitswesen tätig sind, und bei den Entscheidungsträger:innen. Wir sehen Fortschritte, aber es ist zu wenig, als dass es zu strukturellen Änderungen oder Verbesserungen kommt. Hier ist die Politik gefordert. Frauen müssen zum Beispiel wissen, dass sie bei denselben Krankheiten – zum Beispiel einem Herzinfarkt – möglicherweise unter anderen Symptomen leiden als Männer.

Hufgard-Leitner: Es ist auch nach wie vor nicht selbstverständlich, dass wissenschaftliche Studien von Anfang an geschlechtsspezifisch gedacht, de-signt, ausgewertet und abgeleitet werden müssen.

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Ist also noch immer alles auf den weißen Mann zugeschnitten?

Hufgard-Leitner: So war es. Es gibt viele Bemühungen und Initiativen, mehr Bewusstsein. Es gibt auch Überlegungen, Gesetze anzupassen, aber es dauert, bis das selbstverständlich ist.

 

 

Wo gab es schon Verbesserungen?

Hufgard-Leitner: Ganz klar in der Betrachtung von Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems. Es ist im Mainstream angekommen, dass Frauen hier häufiger und anders betroffen sind. Fortschritte gibt es aber auch bei geschlechtsspezifischen Empfehlungen zu Vorsorgeuntersuchungen sowie bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen.

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Wissenschaftliche Studien sind viel zu oft nicht geschlechtsspezifisch, kritisiert Medizinerin Miriam Hufgard-Leitner. Christoph Altenburger

 

 

Warum ist das Thema Frauengesundheit für Gewerkschaften wichtig?

Neumayer-Stickler: Der ÖGB setzt sich ein für ein gutes Leben für alle. Und die Gesundheit ist ein maßgeblicher Bestandteil davon. Die Chancen für ein Leben in Gesundheit sind ungleich verteilt. Daher legen wir einen Fokus auf Frauengesundheit und dass hier mehr investiert wird.

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ÖGB-Expertin Claudia Neumayer-Stickler sieht Fortschritte, beklagt aber noch zu wenig Bewusstsein. Christoph Altenburger

 

Wie hängen Gesundheit und Lebensumstände zusammen?

Neumayer-Stickler: Frauen leben strukturell unter anderen Bedingungen. Ich denke an die Mehrfachbelastung durch Erwerbsarbeit und Care-Arbeit. Außerdem arbeiten Frauen häufig in Berufen, die psychisch und physisch sehr herausfordernd sind. Zudem ist Armut oft der Grund, dass Menschen nicht unter gesunden Lebensbedingungen leben können. Frauen sind häufiger von Armut betroffen, unter anderem durch Teilzeitarbeit und geringere Pensionen.

 

Kann man auf betrieblicher Ebene dafür ein Bewusstsein schaffen?

Neumayer-Stickler: Ja. Es müssten in der betrieblichen Gesundheitsförderung genau unter diesem Aspekt verstärkte Maßnahmen gesetzt werden, die auch für alle Betriebe verpflichtend sein sollten.

Kärnten ist zur Modellregion für Gendermedizin ausgerufen worden – was heißt das?

Hufgard-Leitner: Es geht darum, Wissen in die Praxis zu bringen. Bei der Bevölkerung schaffen wir Bewusstsein mit niederschwelligen Angeboten. Und Fachpersonal wird gezielt ausgebildet – von der Pflege bis zu Ärzten und Ärztinnen und Apotheker:innen. Ziel ist es, mehr Selbstverständlichkeit zu schaffen.

 

Ist Gendermedizin ein Baustein für mehr Gleichberechtigung?

Neumayer-Stickler: Ja, sie kann als ein Baustein bezeichnet werden, um für mehr Gleichberechtigung aller zu sorgen und auch für ein besseres Standing der Frauen im Betrieb und im Erwerbsleben.