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Wolfgang Katzian, der alte und neue ÖGB-Präsident, erklärt im Interview, warum eine Arbeitszeitverkürzung längst überfällig ist und wie Arbeitnehmer:innen zwischen Klimawandel und Digitalisierung nicht auf der Strecke bleiben. Heribert CORN

Interview

„Die Menschen brauchen mehr Freiräume“

ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian startet in seine zweite Amtszeit als oberster Gewerkschafter Österreichs. Warum im Kampf gegen die Teuerung endlich wirksame Maßnahmen gesetzt werden müssen und was die Kollektivvertragsverhandlungen im Herbst bringen könnten, sind nur einige der Fragen, zu denen Katzian im Interview klar Stellung bezieht.

Herzliche Gratulation zur Wiederwahl! Was wird die zweite Amtszeit von der ersten unterscheiden?

Wolfgang Katzian: Danke! Hoffentlich bleiben unerwartete Herausforderungen wie Corona aus. Wir hatten schon viel damit zu tun, die schlimmsten Auswirkungen auf Arbeitnehmer:innen abzufedern. Da ist einiges gelungen, Stichwort Kurzarbeit. Sie hat am Höhepunkt der Pandemie 1,3 Millionen Arbeitsplätze gesichert. Wir hatten auch nicht damit gerechnet, dass wenige hundert Kilometer von Wien entfernt ein Krieg ausbricht und dieser die Gasversorgung Europas gefährdet. Und die Rekordinflation, der Kampf gegen die Kostenexplosion, wird uns auch noch länger beschäftigen.

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Wie könnte man die Inflation senken?

So, wie andere Länder es vorzeigen. Mit Maßnahmen, die Preise wirklich senken – zum Beispiel dem Aussetzen der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel oder wirksamen Energiepreisbremsen. Das fordern wir seit mehr als einem Jahr – konkrete Maßnahmen haben wir der Regierung übermittelt. Die Umsetzung erfolgte allerdings sehr zaghaft, sehr spät oder gar nicht, obwohl auch Expert:innen unsere Vorschläge unterstützen. Einmalzahlungen sind natürlich eine Hilfe, aber nicht nachhaltig. Österreich ist das Land mit der höchsten Inflation im Euroraum, da wurde einiges verabsäumt.

 

Aber gehen die Preise jetzt nicht ohnehin hinunter?

Nein, das langsame Sinken der Inflation bedeutet nicht, dass alles billiger wird. Es wird nur alles weniger stark teurer. Es ist nicht zu spät für preissenkende Maßnahmen, im Gegenteil. Die Teuerung ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Mieten gehören zu den größten Preistreibern – und sie steigen weiter. 1,5 Millionen Menschen in Österreich sind von ihren Wohnkosten belastet, jetzt steht die nächste Mieterhöhung an. Wohnkostenhilfen für einzelne reichen nicht, wir bleiben bei der Forderung nach einer wirksamen Mietpreisbremse.

 

Heizen gute Kollektivvertragsabschlüsse die Inflation nicht auch weiter an?

Nein, das ist Humbug! Löhne und Gehälter folgen immer den Preisen und nicht umgekehrt. Basis für Lohnforderungen ist bei allen KV-Verhandlungen die rollierende Inflation, also die durchschnittliche Inflationsrate der vergangenen zwölf Monate.

Inflation in Europa
Inflations-Europameister: Österreich rühmt sich damit, besonders viel Steuergeld in die Inflationsbekämpfung gesteckt zu haben – der Vergleich zeigt, dass die Mittel bei Einmalzahlungen an der falschen Stelle investiert wurden. Spanien, Portugal und Frankreich haben in die Preise bei Energie, Wohnen und Lebensmitteln eingegriffen. Ihre Inflationsraten liegen unter dem Eurozonen-Schnitt, Österreich liegt weit darüber. Quelle: Eurostat, IHS

Das wird im Herbst spannend, es ist ja nicht auszuschließen, dass diese rollierende Inflation dann höher ist als die aktuelle Rate zum Auftakt der Verhandlungen. Es kann also sein, dass unsere Forderungen über der Monatsinflation liegen werden – Ziel ist ja, die Teuerungen des abgelaufenen Jahres auszugleichen.

 

Werden die Gewerkschaften auch Arbeitszeitverkürzung fordern?

Jede Gewerkschaft stimmt das Forderungs-programm für jede KV-Gehaltsverhandlung sehr präzise mit den Betriebsrät:innen und Personal-vertreter:innen ab. Aber natürlich ist Arbeitszeitverkürzung immer Thema. Wir werden auch abseits der KV-Verhandlungen über eine kürzere Wochenarbeitszeit und über neue Lebensarbeitszeitmodelle reden. Es gibt gerade in der jüngeren Generation viele, die zwar eine sinnstiftende Arbeit haben wollen, sie aber nicht als ihren Lebensmittelpunkt betrachten. Weniger zu arbeiten hat oft den gleichen Stellenwert wie die Höhe des Einkommens. 

 

Stichwort Einkommen: Frauen verdienen noch immer weniger als Männer.

Freizeit ist wichtiger als Bezahlung
Freizeit ist wichtiger als Bezahlung : Junge Menschen suchen am Arbeitsmarkt längst nicht mehr nur nach guter Bezahlung. 20- bis 28-Jährige wollen laut einer Umfrage von Deloitte 2022 eine gute Work-Life-Balance inklusive flexibler Arbeitsgestaltung. Ebenso wichtig wie Weiterbildungsmöglichkeiten ist ein gutes Klima im Job. Dem werden sich Arbeitgeber anpassen müssen. *Geburtsjahre 1995–2003 Mehrfachnennung möglich Deloitte 2022 Millenial und Gen Z Umfrage Österreich

Wir kämpfen mit den Gewerkschaftsfrauen engagiert dafür, die Einkommenslücke rasch zu schließen. Da geht es auch um den KV-Mindestlohn von 2.000 Euro, um eine Neubewertung von Tätigkeiten und um verpflichtende Einkommensberichte ab 50 Arbeitnehmer:innen. Und natürlich würden Frauen auch von der geforderten Anhebung des Arbeitslosengeldes auf 70 Prozent stark profitieren – wie von der Arbeitszeitverkürzung: Alle Erwerbstätigen hätten dann auch mehr Zeit, um die Care-Arbeit, die ja hauptsächlich von Frauen geleistet wird, gerecht in der Familie aufzuteilen. 

Gerade für Frauen ist die Arbeitszeitverkürzung wichtig. Teilzeitbeschäftigte würden damit näher an Vollzeitarbeit herankommen – das bringt höhere Einkommen und Pensionen und damit bessere Absicherung. 

 

Aber die Wirtschaft wehrt sich.

Dieses reflexartige Nein, wenn man nur laut über Arbeitszeitverkürzung nachdenkt, das ist nicht neu, aber völlig unbegründet und überholt. Es bestätigen ja auch immer mehr Betriebe ihre guten Erfahrungen mit kürzeren Arbeitszeiten – motivierte Mitarbeiter:innen, teilweise sogar Produktivitätssteigerungen. Außerdem liegt die letzte gesetzliche Arbeitszeitverkürzung Jahrzehnte zurück, das war 1975. Und zu guter Letzt ist es natürlich eine Frage der Fairness. Die Arbeit selbst wird immer hektischer, das Tempo immer schneller, die Menschen brauchen mehr Freiräume. 

 

Was brauchen Arbeitnehmer:innen, um sich in der Arbeitswelt, die sich ständig ändert, zurechtzufinden?

Die Arbeit selbst wird immer hektischer, das Tempo immer schneller, die Menschen brauchen mehr Freiräume.

Wolfgang Katzian, ÖGB-Präsident

Sie brauchen das passende Rüstzeug zur Bewältigung der großen Transformationsprozesse. Die Digitalisierung und die Klimakrise sind auch in der Arbeitswelt zentrale Herausforderungen. Beide Transformationsprozesse werden zu großen Veränderungen und Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Gefüge führen.

Viele Arbeitnehmer:innen haben jahrelang alles richtig gemacht und sich gut weitergebildet, und jetzt hören sie, dass sie den Anforderungen des modernen Wirtschaftens nicht mehr entsprechen. Diese Menschen dürfen nicht auf der Strecke bleiben. Gewerkschaften in ganz Europa reden von der „Just Transition“, vom gerechten Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft und Gesellschaft. Man wird Geld in die Hand nehmen müssen, um alle, die in Berufen arbeiten, die es vielleicht bald nicht mehr gibt, mitzunehmen und ihnen eine Perspektive zu geben.

 

Wie kann der ÖGB da konkret unterstützen?

Indem wir Expertise und die richtigen Vorschläge liefern und dabei immer auf die Rahmenbedingungen achten. Im Großen, in der Politik, wie im Kleineren, in den Betrieben.

Da geht es darum, möglichst viel Forschung und Entwicklung zu ermöglichen. Und natürlich um Bildung und Fortbildung der Menschen. Aktuell bauen wir im ÖGB ein eigenes Klimabüro auf, das Betriebsrät:innen bei der Umstellung auf eine CO2-freie Produktion und in anderen Umweltfragen unterstützen soll.

 

Das klingt nach einer gewaltigen Kraftanstrengung.

Wolfgang Katzian
Reflexartige Ablehnung von Anliegen der Arbeitnehmer:innen ist „unbegründet und überholt“, kritisiert Katzian. Auch Digitalisierung und Klimakrise sind große Herausforderungen. Der ÖGB steht mit seiner Expertise hinter den arbeitenden Menschen. Heribert CORN

Wird es auch. Aber wir haben ein umfangreiches Programm für die nächsten Jahre erarbeitet und vor wenigen Wochen beim Kongress beschlossen. Wir sind maximal motiviert, möglichst viel davon umzusetzen.