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Richard Tanzer

Gesundheit und Krankheit am Arbeitsplatz

Risikogruppen: „Jetzt vor Virus schützen, später vor Kündigung“

Ingrid Reischl fordert die Regierung auf, in Sachen Risikogruppen Klarheit zu schaffen – und einen Kündigungsschutz

Viel wird dieser Tage über „Risikogruppen“ gesprochen. Aber wer ist damit gemeint? Einig sind sich die ExpertInnen bei älteren Menschen ab 65 Jahren und Menschen mit chronischen Vorerkrankungen. Aber was ist mit den Menschen, die nicht zu diesen Gruppen gehören und trotzdem täglich einem hohen Risiko ausgesetzt sind? oegb.at hat mit Ingrid Reischl, der Leitenden Sekretärin im ÖGB, darüber gesprochen.

oegb.at: Am 3. April wurden im Nationalrat die neuen Corona-Maßnahmen zum Schutz von Risikogruppen beschlossen. Was daraus immer noch nicht hervorgeht ist: eine klare Definition der Risikogruppen. Wer fällt denn nun in die Kategorie „Risikogruppe“?

Reischl: Da sind derzeit mehr offene Fragen als Lösungen zu erkennen. Über unsere ÖGB-Hotline bekommen wir viele Fragen von Menschen, die wir zurzeit nicht beantworten können, weil es von Seiten der Regierung noch keine klare Definition gibt.  

Am Freitag hat der Nationalrat beschlossen, dass es zur genauen Festlegung eine Arbeitsgruppe aus ExpertInnen des Gesundheitsministeriums, Arbeitsministeriums, Sozialversicherung und Ärztekammer geben soll. Wann es jedoch hier Ergebnisse gibt, ist noch völlig offen – und bis dahin werden ArbeitnehmerInnen im Unklaren gelassen. Das ist nicht akzeptabel. Die Regierung muss hier rasch Klarheit schaffen und nicht in Krisenzeiten für Verunsicherung sorgen.

Außerdem sehen wir am Beispiel der Risikogruppen in systemrelevanten Bereichen, dass für die Regierung offenbar nicht alle ArbeitnehmerInnen gleich schützenswert sind.

Was ist damit genau gemeint?

Für manche Beschäftigte gilt diese neue Regelung, für andere nicht. Alle ArbeitnehmerInnen in systemrelevanten Bereichen sind von dieser Freistellungsmöglichkeit explizit ausgeschlossen. Was machen wir beispielsweise mit den KassiererInnen oder der Pflegekraft, wenn diese eine entsprechende Vorerkrankung haben? Deren Gesundheit wird bewusst riskiert. Wir als ÖGB fordern, dass hier alle ArbeitnehmerInnen gleich schützenswert sein müssen! 

Der ÖGB fordert außerdem einen Kündigungsschutz – warum?

Wer jetzt als akut Gefährdeter freigestellt wird, läuft Gefahr, später seinen Job zu verlieren. Natürlich ist es sehr wichtig, dass Risikogruppen in der derzeitigen Situation von zu Hause aus arbeiten können oder freigestellt werden. Aber es muss sichergestellt sein, dass diese Menschen nach der Krise weiterhin arbeiten können. Wir müssen also dafür sorgen, dass Menschen jetzt vor dem Coronavirus und danach vor dem Arbeitsplatzverlust geschützt werden.

Aber das Gesetz sieht doch einen Kündigungsschutz vor. Ist das nicht ausreichend?

Richtig ist, dass im Gesetz ein Kündigungsschutz für die Zeit während der Freistellung verankert ist. Dies reicht aus unserer Sicht jedoch nicht aus. Denn um zum Schutz zu kommen, von zu Hause aus arbeiten zu können, Schutzausrüstung zu bekommen oder freigestellt zu sein, muss ich mich zunächst per Attest als chronisch krank deklarieren. Das kann nach der Krise zu Diskriminierung oder eben auch zur Kündigung führen. Die ArbeitnehmerInnen müssen hier langfristig abgesichert werden. Wir müssen also auch an die Zeit nach der Coronakrise denken. 

Gibt es noch etwas, das vergessen wurde?

Ja, man hat auf die Angehörigen bzw. auf die Menschen, die im gemeinsamen Haushalt mit Menschen leben, die beruflich oft hinaus müssen, vergessen. Bei uns rufen immer wieder ArbeitnehmerInnen an, die Angst haben ihre Liebsten anzustecken, weil sie jeden Tag raus zum Arbeiten gehen müssen. Für diese gibt es keine Möglichkeit, jene zu schützen, die in Gefahr sind und mit denen sie zusammenleben.


INFOBOX: Wie erfahre ich, ob ich zur Risikogruppe gehöre?

  • Es wird eine ExpertInnengruppe aus Gesundheitsministerium, Arbeitsministerium, Sozialversicherung und Ärztekammer eingerichtet. 
  • Diese legen eine allgemeine Definition von Risikogruppen anhand der aktuellen Erkenntnisse fest. 
  • Über die Daten der Krankenversicherung werden potentiell Betroffene informiert. 
  • Anhand dieser Informationen hat der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin das individuelle Risiko der betroffenen Person abzuschätzen und bei Bedarf ein „Covid-19-Attest“ auszustellen. 
  • Dieses Attest ist die Voraussetzung für die Freistellung.