Zum Hauptinhalt wechseln
ÖGB

„Wir müssen wachsam sein und kämpferisch!“

Was war, was ist und was sein wird: Das Coronavirus hat die Welt im Würgegriff und wird nicht so schnell lockerlassen, bevor das große Aufräumen beginnen kann. ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian im Interview über die großen Herausforderungen in einer der schlimmsten Krisen der jüngeren Geschichte und was das für die Gewerkschaftsbewegung bedeutet.

Solidarität: Man will gar nicht zu genau auf 2020 zurückschauen, aber man muss. Was sticht für dich heraus?
Wolfgang Katzian: „Wir waren noch nie mit einer Pandemie, einer Gesundheits- oder eine Wirtschaftskrise dieses Ausmaßes konfrontiert. Aber wie stellt man sich als Gewerkschaftsbewegung so einer Situation? Klar war für uns: Wir engagieren uns überall dort, wo es um die Lebens- und Arbeitssituation von ArbeitnehmerInnen geht, aber wo es um medizinische Entscheidungen geht, halten wir uns an die ExpertInnen."

Das hat nicht jeder so gemacht. Man könnte meinen, es gibt acht Millionen VirologInnen.
„Das ist immer so, wenn ein Thema besonders stark aufkocht. Das befreit die Entscheidungsträger auf verschiedenen Ebenen aber nicht davon, Entscheidungen auch treffen zu müssen, wenn es Druck gibt. Wie bei allem geht es auch hier um Interessen."


Die Frage ist nur: Wer macht sich für wessen Interessen stark?
„Wir machen uns für die stark, die arbeiten gehen müssen oder zwischen Homeoffice, Homeschooling und Home-was-weiß-ich untergehen. Und auch für alle, die ihre Arbeit verlieren, damit sie nicht in Armut abgleiten, sondern eine Perspektive haben."

„Wir waren praktisch das ganze Jahr in Kurzarbeitsverhandlungen, das hat viele Jobs gerettet."

Welche Rolle spielt die Kurzarbeit dabei?
„Wir waren praktisch das ganze Jahr in Kurzarbeitsverhandlungen, das hat viele Jobs gerettet. Am Höhepunkt waren 1,3 Millionen Menschen in Kurzarbeit; viele dieser Arbeitsplätze wären sonst weg gewesen. Da waren auch unsere MitarbeiterInnen extrem gefordert. Man muss ja nicht nur verhandeln, sondern auch 60.000 BetriebsrätInnen und PersonalvertreterInnen informieren und einbinden."

 
Wurde die Sozialpartnerschaft wiederbelebt?
„Ich traue mich das noch nicht abschließend zu bewerten. 2020 haben wir beide Extreme erlebt: Man hat uns voll eingebunden und gemeinsam etwas vertreten und es gab Momente, da wollte man uns nur zur Behübschung verwenden. Wenn ich Vereinbarungen treffe, dann stehe ich dazu. Darauf lege ich Wert. Aber ich verteidige nichts, wo wir nicht eingebunden waren."

„Der Sozialstaat mit seinem Gesundheitssystem, das ist der Star der Krise. Das kann man nicht wegdiskutieren. Der Markt hat sich ja als Erster verabschiedet."

Hat der Sozialstaat gezeigt, was er leisten kann?
„Der Sozialstaat mit seinem Gesundheitssystem, das ist der Star der Krise. Das kann man nicht wegdiskutieren. Der Markt hat sich ja als Erster verabschiedet. Der Sozialstaat ist ein Zukunftskonzept, das man erhalten und weiterentwickeln muss. Was wäre jetzt los, hätten wir zugelassen, dass man unser Gesundheitssystem zusammenspart? Was wäre gewesen, wenn man, wie vom Rechnungshof vorgeschlagen, locker-flockig drei Milliarden eingespart hätte? Da haben wir als Gewerkschaftsbewegung vieles richtig gemacht."


Corona deckt auch schonungslos auf, was in unserem Wirtschaftssystem falsch läuft. Muss man da vieles neu überdenken? Zum Beispiel die Definition eines Leistungsträgers?
Absolut. Das haben auch alle gesehen. Man darf es nur nicht wieder vergessen. Das zu verhindern, wird auch unsere Aufgabe sein. Die Leistungsträger sind nicht Topmanager, sondern die, die auch hackeln, wenn die Ansteckungsgefahr besonders groß ist. Das sind aber oft die am schlechtesten Bezahlten mit den schlimmsten Arbeitsbedingungen."


Ist das Kernproblem, dass der Begriff Leistungsträger über die Höhe des Einkommens statt über den gesellschaftlichen Wert der Tätigkeit definiert wird?
„Das ist genau der Punkt. Speziell im ersten Lockdown haben viele gesehen und gespürt, dass es vor allem auf den Wert einer Tätigkeit ankommt und nicht darauf, was sie kostet oder was man damit verdient. Die Gesellschaft hat das plötzlich ganz anders bewertet, und das ist absolut richtig."


Was wird da noch nötig sein? Wie kann man das dauerhaft verankern?
„Wir als ÖGB müssen dafür sorgen, dass das Thema in einer gesamtgesellschaftlichen Debatte präsent bleibt, die Gewerkschaften es bei den KV-Verhandlungen einbringen. Am Ende muss das Geld dafür vorhanden sein. Und damit sind wir beim springenden Punkt: Wer soll das bezahlen? Die Ersten reden schon wieder von Sparpaketen, Mehrwertsteuererhöhungen und so weiter."

„Wir brauchen keine Charity-Aktionen, wo einer spendet und dann vier Tage in der Zeitung ist. Wir brauchen verbindliche Abgaben."

Und wer soll das bezahlen?
„Ich erwarte mir einen extrem starken Beitrag großer Vermögen, aber mit klarer Verantwortung für einen Beitrag zum Staat. Wir brauchen keine Charity-Aktionen, wo einer spendet und dann vier Tage in der Zeitung ist. Wir brauchen verbindliche Abgaben. Das wird eine harte Auseinandersetzung, weil freiwillig wird nichts hergegeben. Darauf müssen wir uns vorbereiten."


Die Masse finanziert den Staat, während die Reichen sogar in der Krise reicher werden. Was läuft da falsch?
„Das ist unserem Wirtschaftssystem immanent. Aber wenn sie ihren Beitrag leisten müssten, dann könnten sie auch. Ich rede von Vermögenssteuern. Es kann ja nicht sein, dass sich manche sogar in der Krise eine goldene Nase verdienen, während andere nicht wissen, wie sie ihren Hals aus der Schlinge ziehen sollen. Es braucht Anstrengungen auf nationaler und internationaler Ebene. Es muss Geld lockergemacht werden, aber nicht auf Kosten der ArbeitnehmerInnen, sondern auf Kosten derer, die es sich leisten können."

"Diese riesigen Vermögen entstehen ja nicht aufgrund von Leistung, jedenfalls nicht der eigenen. Das geht gar nicht."

Schaffen letztlich die ArbeitnehmerInnen den Wohlstand, den andere dann verwalten?
"Diese riesigen Vermögen entstehen ja nicht aufgrund von Leistung, jedenfalls nicht der eigenen. Das geht gar nicht. Vermögen wird kaum untersucht. Extrem gut untersucht ist dafür die Armut – bis zum letzten Cent. Was man von großen Vermögen, die in der Hand weniger Menschen sind, weiß, ist arg genug, aber ich vermute, die Wahrheit ist noch viel ärger."


Bei Unternehmen meint die Regierung, dass 80 Prozent des Umsatzes zum Überleben nötig seien. Warum erkennt man das bei Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, nicht an?
„Genau diese Frage habe ich sowohl den Sozialpartnern als auch der Regierung gestellt. Mit der Antwort haben sich eh alle schwergetan. Es gibt ideologische Brüche, wo man glaubt, alles, was man den Arbeitslosen dauerhaft gibt, ist schlecht. Aber niemand kann sich mit Arbeitslosengeld ausruhen. Dieses Argument ist zynisch. Wir wissen auch, dass es viel mehr Arbeitslose als offene Stellen gibt. Das „Koste es, was es wolle“ der Regierung gilt leider nicht für alle im gleichen Ausmaß."


Was bringt uns die Zukunft? Wie kommen wir zurück in eine Normalität, ohne dabei jemanden zu verlieren?
„Ich hoffe auf eine gute Impf- und Teststrategie. Wenn das funktioniert, sollten wir zumindest aus der Gesundheitskrise rauskommen. Was bleibt, und ich fürchte für mindestens zwei Jahre, ist die Wirtschaftskrise mit ihren Folgen. Das heißt hohe Arbeitslosigkeit und Insolvenzen. Gleichzeitig haben wir den großen gesellschaftlichen Transformationsprozess mit Klimawandel, Digitalisierung und den damit verbundenen Veränderungen. Wir müssen die Jobs der Zukunft finden und die Menschen dafür qualifizieren. Dazu sind Strategien nötig. Es reicht ja nicht zu sagen, es fehlen Zehntausende Menschen in der Pflege. Man muss die Leute ja auch für ihre zukünftigen Berufe ausbilden und ihnen das – auch finanziell – ermöglichen."

„Da werden wir sehr wachsam – und ich glaube auch kampfbereit – sein müssen."

Auch die Schulden wird man zurückzahlen müssen.
„Das ist eine große Herausforderung. Das können nicht die ArbeitnehmerInnen machen. Wir müssen so investieren, dass wir das mit Wirtschaftswachstum ausgleichen und nicht ständig Einsparungsdebatten haben. Da werden wir sehr wachsam – und ich glaube auch kampfbereit – sein müssen."


Für ein Wachstum sorgen letztlich die ArbeitnehmerInnen mit ihrer Leistung. Müssen sie daran auch teilhaben?
„2020 haben viele von ihnen Geld verloren, etwa durch Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit. Wenn es wieder läuft, müssen sie aber auch an der Entwicklung der Wirtschaft partizipieren und nicht mit der Inflationsrate abgespeist werden. Das wird ein großer Punkt für die KV-Verhandlungen."