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8 Lehren aus der Coronakrise

Die Corona-Krise als Chance

Die Corona-Krise hat auf dramatische Weise den Handlungsbedarf im System aufgezeigt. Die Gewerkschaften in den Bodenseeanrainerländern Österreich, Deutschland, Schweiz und Liechtenstein hatten dabei zum Großteil mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Sie sind überzeugt: Jetzt gilt es aus den Erfahrungen eine Chance zu machen! Der Interregionale Gewerkschaftsrat Bodensee (IGR) bestehend aus ÖGB Vorarlberg, den DGB-Regionen Südwürttemberg und Schwaben, Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) und Travail.Suisse Ostschweiz sowie Liechtensteinischer ArbeitnehmerInnen-verband (LANV) hat sich angesehen, was Corona verändert hat und was daraus für Lehren gezogen werden müssen.

Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, sowie geschlossene Schulen und Kinderbetreuungsstellen brachten viele ArbeitnehmerInnen rund um den Bodensee an den Rand der Belastungs- und Existenzgrenze. Die Sorgen und Nöte zogen sich durch alle Gesellschaftsschichten und alle Altersgruppen. Vor allem Frauen waren die großen Verliererinnen der Krise. Einerseits wurde – zurecht – viel Geld in die Rettung von Unternehmen gesteckt, andererseits wurden aber jene vergessen, die durch lange Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit kaum noch über die Runden kamen. Die so genannten „HeldInnen der Coronakrise“ wurden beklatscht, der Applaus ist aber wieder verhallt. Sie wurden für ihren Einsatz weder ausreichend belohnt, noch folgte eine höhere Wertschätzung für deren Arbeit durch bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen.

8 Lehren aus der Coronakrise

Es gilt aus der Krise zu lernen und über den Tellerrand zu blicken, um den Herausforderungen der Gegenwart auf Augenhöhe begegnen zu können, egal, ob es dabei um die aktuelle Pandemie, die Klima- oder die globale Gerechtigkeitskrise geht. Die Politik muss jetzt die Voraussetzungen schaffen, um auf Krisen besser vorbereitet zu sein bzw. die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Schwachstellen zu reparieren. Der IGR Bodensee hat 8 Themenbereiche festgestellt, bei denen dringender Handlungsbedarf besteht.

1. Krisensicheres Gesundheitssystem

Wir brauchen ein Gesundheitssystem, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an Gewinnen und ökonomischer Effizienz. Die Belastung für die Beschäftigten in den Spitälern und Pflegeheimen ist enorm. Die Krise hat den Druck noch einmal drastisch erhöht. Es braucht deshalb ein besseres Krisenmanagement. Das Gesundheitssystem muss sowohl die Grundversorgung der Bevölkerung auf hohem medizinischem Niveau als auch Reservekapazitäten und Personal für den Fall einer Pandemie einplanen. Außerdem beklagen die Beschäftigten in der Kranken- und Altenpflege seit langem belastende Arbeitsbedingungen und eine Bezahlung, die den psychischen und physischen Herausforderungen nicht entspricht. Die Arbeitsbedingungen lassen sich vor allem durch einen höheren Personalschlüssel und letztendlich auch durch eine bessere Bezahlung verbessern.

2. Erfolgsmodell Kurzarbeit

Kurzarbeit hat sich als ein effektives Mittel erwiesen, um Fachkräfte im Unternehmen zu halten, Arbeitsplätze zu erhalten und schnell aus der Krise zu kommen. Corona hat den Wandel der Arbeitswelt beschleunigt. Die Unternehmen nutzen die Krise, um Unternehmensteile oder Fabriken zu schließen. Im Strukturwandel, der nun folgt, werden viele Arbeitsplätze wegfallen. Deshalb muss das Modell der Kurzarbeit auf jeden Fall beibehalten werden. Außerdem braucht es eine Erhöhung der Sätze und Möglichkeiten zur Umschulung und Qualifizierung. Die Einkommensverluste während der Kurzarbeit haben vor allem bei jenen Personen zu gravierenden Problemen geführt, die bereits zuvor niedrige Einkommen hatten. Für tiefe Einkommen muss deshalb die vollständige Entschädigung – d.h. 100 Prozent des vorherigen Lohnes – eingeführt bzw. beibehalten (CH) werden.

3. Existenzsicherendes Arbeitslosengeld

In Österreich ist das Arbeitslosengeld im Verhältnis zum letzten Nettoeinkommen mit 55 Prozent sehr niedrig, wie auch der Vergleich der Länder rund um den Bodensee zeigt. In Deutschland liegt der Satz bei 60 Prozent, in der Schweiz bei 70 Prozent und in Liechtenstein bei 70 bis 80 Prozent. Neben einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes – vor allem von ÖGB und DGB gefordert – muss auch die Bezugsdauer verlängert werden, denn die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich in allen vier Ländern erhöht. Gerade in der Krise hat sich auch gezeigt, dass der Inlandkonsum eine wichtige Stütze der heimischen Wirtschaft war. Ein höheres Arbeitslosengeld sorgt demnach für eine Stabilisierung. Die Arbeitslosenversicherung muss sich zudem stärker auf Umschulung und Weiterbildung fokussieren. Für die Arbeitsvermittlung muss deutlich mehr Personal bereitgestellt werden.

Absolut falsch ist das Argument, wonach ein höheres Arbeitslosengeld mangelnde Anreize zur Aufnahme einer Arbeitsstelle schafft. In Belgien bekommen Arbeitssuchende 90 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens. Die Arbeitslosenquote lag dort vor der Krise (2019) bei 5,36 Prozent, während sie in Österreich – mit deutlich niedrigerem Arbeitslosengeld – 7,4 Prozent betrug.

4. Corona-Arbeitslosigkeit trifft Frauen härter

Zu Beginn der Krise waren es frauendominierte Branchen, die vermehrt im Einsatz und damit einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt waren. Gleichzeitig sind auch frauendominierte Branchen – wie Gastronomie, Dienstleistung und der Einzelhandel – von Arbeitslosigkeit besonders betroffen. Die Pandemie hat das Problem von Frauen, die am Arbeitsmarkt schon vor Beginn der Covid-19-Krise gegenüber Männern benachteiligt waren, noch weiter verschärft. Insbesondere Frauen sind wegen ihrer Mehrfachbelastung aufgrund von Betreuungspflichten, Erwerbsarbeit, Homeschooling und Hausarbeit besonders gefordert. Die Corona-Krise darf die ohnehin begrenzten Fortschritte der Gleichberechtigung nicht wieder rückgängig machen. Die Politik ist jetzt gefragt, Frauen bei den Maßnahmen zur Bewältigung der Krise stärker zu berücksichtigen und sie mit der Situation nicht allein zu lassen. Außerdem muss das Betreuungsproblem endlich ernst genommen und der flächendeckende Ausbau und Betrieb der Kinderbildungseinrichtungen vorangetrieben werden.

5. Arbeitszeitverkürzung schafft Zufriedenheit und Jobs

Die Zeit ist reif für die nächste gesetzliche Arbeitszeitverkürzung. Von kürzeren Arbeitszeiten profitieren alle. Ausgeruhte MitarbeiterInnen sind produktiver und seltener im Krankenstand. Von besserer Gesundheit durch kürzere Arbeitszeit hat auch die Volkswirtschaft etwas. Krankheiten verursachen immense Kosten. Kürzere Arbeitszeiten sorgen auch dafür, dass mehr Menschen einen Job finden – gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist die bessere Verteilung von Arbeit unumgänglich, wie auch Studien der Uni Wien zeigen. Außerdem lässt sich „Familienarbeit“ besser verteilen – Frauen kommen aus der Teilzeitfalle und Altersarmut wird effektiv bekämpft. Eine Arbeitszeitverkürzung kommt aber nur bei vollem Lohn- und Personalausgleich in Frage. Niemand soll weniger verdienen, das vorhandene Arbeitsvolumen soll auf mehr Menschen aufgeteilt werden. Erreicht werden kann dies etwa durch mehr Urlaub bzw. eine 4-Tage Woche bei einer Reduktion der Arbeitszeit und vollem Lohnausgleich.

6. Bessere Bezahlung in systemrelevanten Branchen

Die Arbeit der BauarbeiterInnen, HandwerkerInnen, der Reinigungskräfte, der PflegerInnen, der KinderbetreuerInnen und vieler weiterer Berufe ist entscheidend für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Die Pandemie hat gezeigt, dass diese Arbeiten systemrelevant sind. Nicht zuletzt hat die Akademisierung in den letzten Jahren zu einem Missverhältnis zwischen gesellschaftlicher Anerkennung vieler systemrelevanter Berufe auf der einen Seite und ihrer Bedeutung für das Funktionieren unserer Gesellschaft auf der anderen Seite geführt. Dies zeigt sich beispielsweise bei den Löhnen, den Arbeitsbedingungen, den Möglichkeiten für Weiterbildungen, den Berufsperspektiven, aber beispielsweise auch bei der Diskussion um das Renten- bzw. Pensionsalter. Es wird Zeit für eine Neujustierung, damit eine Spaltung der Berufswelt gestoppt werden kann und diese wichtigen Berufe wieder die ihnen zustehende Anerkennung erhalten. Die wirtschaftliche Erholung nimmt rasch Fahrt auf und erlaubt in den meisten Branchen entsprechende Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen.

7. Home-Office absichern

Arbeiten von zuhause aus ist gekommen, um zu bleiben. Dafür ist ein guter Rechtsrahmen notwendig, der ArbeitnehmerInnen Sicherheit bietet. Gerade die mobile Arbeit bietet Gestaltungsmöglichkeiten, die einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu Gute kämen. So könnte die Arbeitszeitflexibilität dazu führen, dass Frauen ihre Arbeitsstunden erhöhen und dadurch aus geringfügiger Beschäftigung und geringer Teilzeit aussteigen. Ruhezeiten, Dokumentation und Arbeitsplatzsicherheit wären Themen, die in Tarif- bzw. Kollektivverträgen und Betriebsvereinbarungen geregelt werden können. Neben der Bereitstellung der direkten Arbeitsmittel (Laptop, Diensthandy etc.) ist eine weitere Forderung, dass die ArbeitgeberInnen auch die durch die Heimarbeit entstehenden Kosten für Internet und Strom übernehmen. Derartige Zahlungen sollen auch nicht als Einkommen, sondern als reinen Kostenersatz behandelt und damit steuerlich begünstigt werden.

8. Online-Riesen fair besteuern, PaketfahrerInnen fair behandeln

Beunruhigend sind neuere Entwicklungen wie der grenzüberschreitende Onlinehandel über Tiefstlohn-Firmen wie Amazon und Zalando sowie die damit verbundene Logistik mit Subunternehmerstrukturen. Die Zahlen zeigen eine deutliche Tendenz:

  • Im Jahr 2020 erzielte das Onlinegeschäft in Deutschland einen Umsatz mit Waren in Höhe von rund 83,3 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr ist der Umsatz um annähernd 15 Prozent gestiegen.
  • Im Jahr 2020 betrug das Marktvolumen im Schweizer Online- und Versandhandel rund 13,1 Milliarden Schweizer Franken, dies entspricht einer Steigerung um rund 27,2 Prozent zum Vorjahr.
  • 4,4 Millionen ÖsterreicherInnen haben im vergangenen Jahr im Internet eingekauft und dabei 8,4 Milliarden Euro ausgegeben - um 1,2 Milliarden Euro mehr als im Jahr davor. Der Anteil der "Online-Shopper" an allen KonsumentInnen im Alter von 16 bis 74 Jahren erhöhte sich von 62 auf 66 Prozent.

Die GewinnerInnen sind die großen Onlineunternehmen wie Amazon oder Zalando, die mehr und mehr Gewinne erzielen, ohne dafür in den jeweiligen Ländern Steuern zu bezahlen. Ein Teil des Gewinnes wird an die KundInnen mit Rabattaktionen und Billigstpreisen weitergegeben, was wiederum dem heimischen Handel massiv schadet. Zudem überbieten sich skurrile Subunternehmen mit immer noch günstigeren Zustelltarifen. Die Leidtragenden sind die PaketzustellerInnen, die unter unwürdigen Arbeitsbedingungen zu leiden haben. Um solche Prekarisierungstendenzen zu verhindern, braucht es den verstärkten Kampf gegen Scheinselbstständigkeit und den Mut der Politik, Steuerschlupflöcher zu schließen und die Onlineriesen endlich fair zu besteuern.

Über den IGR Bodensee

Der Interregionale Gewerkschaftsrat Bodensee ist der Zusammenschluss der DGB-Bezirke Baden-Württemberg und Bayern, der ÖGB-Landesorganisation Vorarlberg, der kantonalen Gewerkschaftsbünde St. Gallen, Thurgau, Schaffhausen, Zürich, Appenzell AR, Glarus und Graubünden im SGB, Travail.Suisse St. Gallen und Thurgau sowie des Liechtensteinischen ArbeitnehmerInnenverbands (LANV). Die genannten Bünde sind durch ihre nationalen Organisationen Mitglieder im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) und bekennen sich ohne Vorbehalt zu den Grundsätzen des freien und demokratischen Gewerkschaftswesens.

Ziel des Zusammenschlusses ist, die wirtschaftlichen, arbeitsmarktpolitischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer/innen auf der Ebene der Europa-Region Bodensee im allgemeinen und insbesondere im Rahmen der Regionalpolitik der Europäischen Union zu vertreten und zu fördern.