Europa
Great again?!
Ein Rückblick auf den ungarischen EU-Ratsvorsitz
Ende des Jahres wird Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft planmäßig an Polen übergeben. Das Leitmotiv der ungarischen Präsidentschaft, die Frage nach Europas Wettbewerbsfähigkeit, war im 2. Halbjahr 2024 politisch klar dominierend. Im Gegensatz zum sozialpolitisch starken belgischen Vorsitz im ersten Halbjahr 2024 fällt die Bilanz für sozialpolitische Anliegen bzw. für die Interessen der Arbeitnehmer:innen mager aus. Der Vorsitz ist zudem genau in die Konstituierungsphase des neuen Europäischen Parlaments gefallen. Dadurch war der politische Spielraum allgemein eher begrenzt. Nichtsdestotrotz startete die Ratspräsidentschaft zunächst aufsehenerregend.
Ein turbulenter Start im Schatten des Krieges
Zum Auftakt der ungarischen EU-Präsidentschaft verkündete Ministerpräsident Orbán in einer Pressekonferenz mit Herbert Kickl und dem ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babiš die Gründung einer neuen Rechtsaußen-Fraktion im EU-Parlament. Es folgten umstrittene Auslandsreisen Orbáns - neben Kiew und Moskau besuchte er im Rahmen seiner selbsternannten Friedensmission auch Peking, Washington und Mar-a-Lago. Diese Reisen haben weitgehend unabgestimmt stattgefunden und wurden vor allem von Putin freudig für Propagandazwecke instrumentalisiert. Das hat in der EU zu großen Verstimmungen geführt: Kommissar:innen wurde die Teilnahme an Sitzungen in Ungarn untersagt, eine Rede Orbáns vor dem EU-Parlament wurde verschoben und Teile des Parlaments forderten gar den Entzug von Ungarns Stimmrecht. Seine wiederholten Sympathiebekundungen für den designierten US-Präsidenten Donald Trump, vor allem im Kontext seiner Wiederwahl, haben in der EU ebenfalls viel Befremden ausgelöst.
Der Wettbewerbsdruck verbindet
Sieht man von diplomatischen Alleingängen und der altbekannten, grundsätzlich feindseligen Haltung Viktor Orbáns gegenüber der EU und ihren Institutionen ab, ist die Vorsitzperiode inhaltlich unauffällig verlaufen. Es herrschte weitgehend Einigkeit in Hinblick auf die wirtschaftlichen Herausforderungen der EU im Zuge der geopolitischen Umwälzungen und des doppelten Wandels. Mario Draghis Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit prägte den politischen Herbst. Die darin enthaltenen Analysen und Empfehlungen sind beim ungarischen Ratsvorsitz auf ausdrückliche Zustimmung getroffen.
Beim EU-Gipfel in Budapest wurde im November eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, die im Wesentlichen mit den Empfehlungen der Berichte von Draghi und Letta übereinstimmt (Schließung von Investitionslücken, Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit durch Qualität und Kompetenz, Bürokratieabbau). Das Dokument reicht jedoch kaum über eine allgemeine Absichtsbekundung hinaus. Viele Fragen sind noch offen oder strittig – etwa die Finanzierung von Investitionen über gemeinsame Schulden bzw. Eurobonds. Zudem hat die neue EU-Kommission erst mit Anfang Dezember ihr Amt angetreten. Sie wird in weiterer Folge Vorschläge vorlegen, wie die massiven Investitionen finanziert werden können.
Soziales und Ökologie verlieren an Relevanz
Sozialpolitik und der European Green Deal sind in der allgemeinen politischen Themenkonjunktur in den Hintergrund getreten. Neben der Wettbewerbsfähigkeit sind Fragen der Geopolitik, Sicherheit und Resilienz ins Zentrum gerückt. Diese thematische Neuausrichtung war im Arbeitsprogramm der ungarischen Präsidentschaft angekündigt und spiegelte sich auch andernorts, etwa im Arbeitsprogramm der neuen Kommission Von der Leyen II, abgestimmt wider. Dennoch hat die von Ungarn angekündigte Forcierung der tiefen Geothermie unter anderem mit einem Forderungspaket der Energieminister:innen an die Kommission geendet. Die geforderten Maßnahmen reichen von einem schnelleren Zugang zu geologischen Informationen über beschleunigten Genehmigungsverfahren bis zu einem europäischen Aktionsplan für Geothermie.
Ein wesentlicher Markstein im Bereich Migration und Asyl ist die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien als vollwertige Mitglieder im Schengenraum Anfang Dezember. Österreich hat sein umstrittenes Veto gegen den Vollbeitritt aufgegeben, nachdem man sich auf ein Grenzschutzpaket geeinigt hatte. Mit 1.1.2025 werden die Landbinnengrenzen dieser beiden Länder unter flankierenden Maßnahmen wie zum Beispiel nicht-systematischen Grenzkontrollen für den Personenverkehr geöffnet. Mitte Dezember einigten sich die EU-Staaten auf einheitliche Strafen für Schlepperkriminalität. Das Gesetz zur besseren Bekämpfung von Menschenschmuggel soll den derzeitigen EU-Rechtsrahmen aus dem Jahr 2002 ersetzen.
EU-Vorsitz als innenpolitische Bühne
Innenpolitisch hat der ungarische Ministerpräsident den Ratsvorsitz freilich vor allem zur persönlichen Imagepolitur genutzt. So sahen regierungstreue Medien den Gipfel der „Europäischen Politischen Gemeinschaft" (EPG) in Budapest etwa als Beleg für ungetrübte diplomatische Beziehungen Ungarns auf dem europäischen Parkett.
Wie derlei Selbstzuschreibungen einzuordnen sind, zeigt das jüngste EuGH-Urteil gegen Ungarn wegen Verstößen gegen das EU-Asylrecht: Weil Ungarn Strafzahlungen in Höhe von 200 Millionen nicht bezahlt hat, wird die Europäische Kommission das Geld von künftigen EU-Zahlungen an das Land abziehen. Es ist nicht das erste Mal, dass EU-Fördermittel für Ungarn eingefroren werden, weil das Land die geltenden EU-Auflagen ignoriert.