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Elisabeth Mandl

Ernst Tüchler ist Volkswirtschaftsexperte im Österreichischen Gewerkschaftsbund

Höheres Arbeitslosengeld verhindert wirtschaftlichen Absturz

oegb.at: Wir haben in kürzester Zeit fast 200.000 Arbeitslose mehr in Österreich. Was bedeutet das aus wirtschaftlicher Sicht? 

Ernst Tüchler: Für die individuell Betroffenen ist das eine Katastrophe, auf die sie sich in keiner Weise vorbereiten konnten. Die Menschen haben ihre Arbeit gemacht, sind loyal zum Unternehmen gestanden, haben auf alles Mögliche verzichtet – und jetzt sind sie gekündigt, arbeitslos und auf Sicht ohne echte Chance, eine andere Arbeit zu finden. Kurzarbeit wäre die bessere Möglichkeit! Gesamtwirtschaftlich ist mit diesem hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit ein massiver Konsumausfall verbunden, wahrscheinlich mit negativen Rückwirkungen auf die weitere wirtschaftliche Entwicklung. 

ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian hat jetzt gefordert, das Arbeitslosengeld zu erhöhen. Kannst du dieser Forderung etwas abgewinnen? 

Ja, selbstverständlich! Es versteht ja kein Mensch, wenn das Arbeitslosengeld, das aktuell 55 Prozent vom Nettoeinkommen (=Nettoersatzrate) ausmacht, nicht erhöht wird, während alle anderen Risiken mit allen denkbaren wirtschaftspolitischen Maßnahmen und massivsten öffentlichen Geldern finanziert werden.  

Höheres Arbeitslosengeld bedeutet für die Gesamtwirtschaft, dass mehr Kaufkraft vorhanden ist und der wirtschaftliche Einbruch nicht so tief ist.

ÖGB-Volkswirtschaftsexperte Ernst Tüchler

Was würde es wirtschaftlich bedeuten, wenn das Arbeitslosengeld erhöht wird und die Leute damit mehr Geld zur Verfügung haben? 

Für die betroffenen arbeitslos gewordenen KollegInnen jedenfalls keinen absolut tiefen wirtschaftlichen Absturz, und sie bekämen so ein wenig mehr Optimismus. Für die Gesamtwirtschaft bedeutet es, dass mehr Kaufkraft vorhanden ist, der wirtschaftliche Einbruch nicht so tief ist. Man sagt dazu „automatischer Stabilisator“ – das Arbeitslosengeld und noch mehr, wenn es erhöht wird, wirkt stabilisierend auf die Wirtschaftslage. 

Aber würden die Leute das Geld nicht für schlechte Zeiten sparen und es erst recht nicht ausgeben? 

Sie haben gearbeitet, werden, statt in die Kurzarbeit, in die Arbeitslosigkeit geschickt und fallen dann quasi von einem Tag auf den anderen auf fast 50 Prozent ihres Einkommens zurück – was soll da noch gespart werden? Die Miete, die Betriebskosten, die Mittel des täglichen Bedarfs müssen sie weiter finanzieren – mit der Hälfte dessen, was vorher verfügbar war. Sollen sie unter der Brücke schlafen?  

Der ÖGB erachtet eine Anhebung des Arbeitslosengeldes auf eine Nettoersatzrate von 70 Prozent als angemessen bzw. notwendig.

Wenn Arbeitslose ein zu hohes Arbeitslosengeld bekommen, mindert das dann nicht den Anreiz, sich nach einer Arbeitsstelle umzuschauen? 

Was für eine Provokation! Wenn die Arbeitslosigkeit in kürzester Zeit so hoch hinaufschnellt – wo sind die Jobs denn? Bei Arbeit geht es einerseits um die Möglichkeit, die jeweilige eigene materielle Lebensgrundlage aus eigenem Zutun zu bewerkstelligen. Andererseits geht es aber weit darüber hinaus: Es geht um die sozialen Kontakte, die am Arbeitsplatz anders sind als in der Arbeitslosigkeit; und es geht letztlich auch um die manchmal belächelte tägliche Routine bis hin zum Sinn des Daseins von Menschen. Dazu gehört Arbeit in all seinen Facetten.

Wie hoch sollte das Arbeitslosengeld deiner Meinung nach sein? Was wäre sinnvoll? 

Der Österreichische Gewerkschaftsbund erachtet eine Anhebung der Nettoersatzrate auf 70 Prozent als angemessen bzw. notwendig. Die Aussage, dass ein höheres Arbeitslosengeld den Anreiz mindern würde, sich eine Arbeit zu sichern, empfindet er als Provokation.

Was für eine Provokation! Wenn die Arbeitslosigkeit in kürzester Zeit so hoch hinaufschnellt – wo sind die Jobs denn?

Wie kann bzw. sollte eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes finanziert werden? 

Vom Lohn und Gehalt zahlen ArbeitnehmerInnen drei Prozent und weitere drei Prozent die ArbeitgeberInnen als Arbeitslosenversicherungsbeitrag. Die Arbeitslosenversicherung als gemeinsame Einrichtung ist eine wirklich große zivilisatorische Errungenschaft, die funktioniert, wenn es darauf ankommt. Insbesondere die Länder, aus denen die neoliberalen Botschaften kommen – dass man keine Arbeitslosenversicherung brauche, dass sie zu hoch sei und daher vom Arbeiten abhalte –, insbesondere diese Länder haben kein oder bei weitem kein vergleichbar gutes Modell gegen die Arbeitslosigkeit wie wir es haben. Das wird jetzt sichtbar.

Wie gut der Topf zur Absicherung gegen Arbeitslosigkeit gefüllt ist, hängt von der Beschäftigungslage, den Löhnen und der Höhe der Arbeitslosigkeit ab. Wenn, wie jetzt, die Arbeitslosigkeit so stark in die Höhe schnellt, dann muss der Staat die Finanzierungslücke aus dem Budget abdecken.