Verteilungsgerechtigkeit
„Unternehmen und Reiche stehlen sich davon“
ÖGB-Volkswirt Ernst Tüchler über neoliberale Gefahren und wer die Krise bezahlen muss
Je näher ein mögliches Ende der Pandemie rückt, desto intensiver wird die Debatte darüber geführt, wer für die Krisenkosten aufkommen soll und welche Maßnahmen nun die sinnvollsten sind. Dabei prallen zwei Ideenwelten aufeinander. Auf der einen Seite, auf der Seite der ArbeitnehmerInnen, steht der von der Gewerkschaftsbewegung entscheidend mitgeprägte Sozialstaat, der in der Krise eindrucksvoll bewiesen hat, dass er unerlässlich ist, um wirklich „niemanden zurückzulassen”. Gegenüber: die neoliberalen Marktradikalen, die für ihr Klientel – die Reichen – möglichst viel herausholen wollen. Dabei arbeiten sie sehr geschickt und verpacken ihre Ideen meist liebevoll, sodass ja niemand Verdacht schöpft, wie gefährlich diese in Wahrheit sind – besonders für ArbeitnehmerInnen. ÖGB-Volkswirt Ernst Tüchler hat für uns hinter die Kulissen geblickt.
oegb.at: Irgendwer wird am Ende die Krisen-Rechnung zahlen müssen. Was droht uns?
Ernst Tüchler: „Die alte neoliberale Agenda – nur ein bisschen anders verkleidet. Es gab das türkis-blaue Programm mit der Senkung der Steuern bei denen, die viel Geld haben. Und im letzten Jahr haben Unternehmen und Reiche mit Steuerstundungen und Schulden bei der Sozialversicherung viel mehr bekommen, als sie sich jemals gewünscht hatten. Und jetzt sagen sie, wenn wir bei der Krisenbewältigung mitzahlen müssen, dann sterben die Unternehmen wie die Fliegen. Das heißt, sie wollen sich aus der Mitfinanzierung davonstehlen. Das haben sie natürlich vorher auch betrieben, aber sie glauben jetzt, bessere Karten zu haben."
Bedroht das auch die soziale Sicherheit?
„Den Sozialstaat auszuhöhlen steht mindestens seit Reagan und Thatcher in den 1980ern ganz oben auf der neoliberalen To-Do-Liste. Er wird in Österreich gemeinsam finanziert und auch davor wollen sich die Unternehmen drücken. Und auch für einen einigermaßen stabilen Arbeitsmarkt wollen die Neoliberalen keinen Finger rühren. Stattdessen wird vor allem von Banken und Versicherungen die Inflationsangst geschürt, damit sie schneller in ihre Normalität zurückkehren können. Das alles läuft unter dem Decknamen „Strukturreform” und soll nach der Krise weitergeführt werden."
„Für einen einigermaßen stabilen Arbeitsmarkt wollen die Neoliberalen keinen Finger rühren."
Worum geht es wirklich?
„Es geht um Macht. Wir befinden uns in einem gewaltigen historischen Umbruch. Technologie, künstliche Intelligenz, Digitalisierung – das führt zu ganz anderen Arbeitsabläufen und zu Verlagerungen. Wo wird der höherwertige Teil der Arbeit in Zukunft stattfinden? Das hat seit den 80ern lange gedauert, aber jetzt geht es irrsinnig schnell. Genauso wie der Klimawandel. In schweren Krisen, wie auch 2009/2010, passieren technologisch-strukturelle Veränderungen viel massiver und viel schneller. Bei den Kapitalisten und Unternehmen gibt es dabei große Verlierer. Der Umbruch ist wie zur der Zeit, als der Adel im aufkeimenden Kapitalismus seine Macht verloren hat."
Viele der Verlierer sind aber sehr traditions- und einflussreich, oder?
„Das sind keine Unbekannten. Es sind die, die uns aus der neoliberalen Ecke mit China oder Asien Angst machen wollen, aber selbst die großen Profiteure sind, wenn alles dorthin verlagert wird."
Gehst du davon aus, dass die ArbeitnehmerInnen am Ende die Krisen-Rechnung bezahlen müssen?
„Die Gefahr ist groß. Der Einfluss der ArbeitnehmerInnen-Seite auf die Regierung ist trotz aller Bemühungen einfach ein anderer als der, den Kreisky möglich gemacht hat. Dabei ist aber auch zu sagen: In der Regierung gibt es auch einige, die genau wissen, dass es nicht lange gut geht, wenn man die ArbeitnehmerInnen ins Eck stellt – also diejenigen, die mit uns arbeiten wollen und dies auch machen."
Wird das noch zu verhindern sein?
„Das werden wir noch sehen. Der größere Teil der jetzigen Regierung hat – wie auch die Vorgängerregierung – geglaubt, dass das einfach so geht. In Wahrheit sind beide damit gescheitert. Nach der Finanzkrise hat es zwei Strukturanpassungsprogramme gegeben und das ging damals, weil ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen prominent in der Regierung vertreten waren. Das ist heute nicht der Fall. Damals konnte man Pakete schnüren und die Belastungen aufteilen. Im Nachhinein muss man schon sagen, dass die Unternehmerseite weniger beigetragen hat, aber die Pläne waren herzeigbar. Aber wer soll denn heute in der Regierung für die ArbeitnehmerInnen geradestehen? Da ist ja niemand, der das nötige Gewicht hat."
„Aber wer soll denn heute in der Regierung für die ArbeitnehmerInnen geradestehen? Da ist ja niemand, der das nötige Gewicht hat."
Viele Unternehmer sagen, sie hätten kein Geld, um Steuerrückstände oder offene Sozialversicherungsbeiträge zu begleichen...
„Ja, das ist aktuell von einem Teil der Unternehmerschaft zu hören. Man kann das natürlich dem Staat überlassen. Man muss aber auch darauf schauen, wer denn derzeit die Steuerlast im Land trägt. Das sind nicht die Unternehmen. Die effektive Belastung ist für sie bei rund zehn Prozent – da braucht man sich nicht aufregen. Alles andere kommt nämlich von den ArbeitnehmerInnen, die mit Lohn- und Mehrwertsteuer rund 80 Prozent aller Staatseinnahmen zahlen. Und dann hört man, die Kurzarbeit wäre so teuer. Laut den Unterlagen des Finanzministers ans Parlament kostet die Kurzarbeit gleich viel wie Steuererleichterungen und -herabsetzungen für Unternehmen. Alle anderen Unternehmenshilfen sind da noch gar nicht eingerechnet."
Wächst die Kluft zwischen Arm und Reich damit weiter?
„Ja, schon deshalb, weil wir in der Spitze 1,2 Millionen Menschen hatten, die keine oder Kurzarbeit hatten bzw. arbeitslos geworden sind, während Reiche ihre Vermögen sogar vergrößern konnten. Dazu kommt, dass ArbeitnehmerInnen relativ wenig Möglichkeiten zur Steuergestaltung haben, während es bei den Unternehmen eine ganze lange Liste gibt. Das fängt schon damit an, wie man die Umsätze erfasst und den Rohgewinn manipuliert. Wenn es um die ArbeitnehmerInnen geht, dann reiten Teile der Regierung und ihre Unterstützer jetzt schon aus und fordern „Strukturreformen” und meinen damit, sie wollen in die Sozialversicherung schneiden und die Regeln am Arbeitsmarkt zurückfahren. Und alle Forderungen der Gewerkschaft, die wirklich einen positiven Effekt für die Allgemeinheit hätten, wie höheres Arbeitslosengeld, werden nicht erfüllt oder verschleppt."
Oft bildet die Theorie die Realität der Menschen nicht wirklich ab, oder?
„Ja, so ist es. Der ÖGB, die Gewerkschaften und die Betriebsräte haben mit einem unglaublichen Einsatz seit Beginn der Corona-Krise permanent darauf hingearbeitet, die zum Teil katastrophalen Auswirkungen auf die arbeitenden Menschen mit der Arbeitgeberseite einigermaßen in den Griff zu bekommen. Soweit es Studien dazu gibt, wird der Erfolg auch sichtbar. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dabei überwiegend um gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge geht. Unseren KollegInnen, die mit einem Durchschnittseinkommen arbeitslos geworden sind, brauche ich mit einer gesamtwirtschaftlichen Studie aber gar nicht kommen."
„Unseren KollegInnen, die mit einem Durchschnittseinkommen arbeitslos geworden sind, brauche ich mit einer gesamtwirtschaftlichen Studie aber gar nicht kommen."
Kann so eine Ungerechtigkeit auf Dauer gutgehen?
„Nein. Wobei: Viele wissen ja, dass einer der wichtigsten Gründe, dass es diesem Land bis jetzt so gut geht, der ist, dass alle Institutionen gemeinsam in die gleiche Richtung gegangen sind, wenn es drauf angekommen ist. Das hat bei uns unter anderem zu einem stabilen sozialen Frieden geführt. Das ist eines der höchsten Güter, die die Politik bereitstellen kann. Jetzt kommt es aber zu gesellschaftlichen Erschütterungen, weil sich keiner mehr auskennt und kaum jemand mehr Pläne machen kann. Zu sagen, wir zahlen nix, obwohl wir so viel haben, und die anderen sollen am Hungertuch nagen, das geht nicht. Und irgendwann kommt dann der eine Tropfen zu viel und das Fass geht über. Die Politik kann das momentan nicht mehr wirklich steuern. Dabei würden die Menschen viele Maßnahmen durchaus mittragen, wenn sie sich noch auskennen würden und nicht zuschauen müssten, wie sich Reiche und Privilegierte alles rausnehmen würden."
Was wäre für die Allgemeinheit der richtige und sinnvolle Weg aus der Krise?
„Der ÖGB hat der Bundesregierung schon im Mai 2020 ein mit allen Gewerkschaften abgestimmtes Programm übermittelt, in dem zu lesen ist, wie wir alle gut aus der Krise kommen. Im Wesentlichen geht es darum, dass man nicht als erstes zu sparen beginnt, sondern investiert. Aber das passt natürlich überhaupt nicht zum neoliberalen Programm – denn im Budget sparen heißt dort in Wirklichkeit: weniger für die Reichen. Man muss jetzt eine offensive Fiskalpolitik betreiben. Geld kostet derzeit sehr wenig und es ist ausreichend da. Man muss bei den wichtigsten Hebeln expansiv und nicht restriktiv sein. Wir müssen zum Beispiel große Teile der Produktion und des Verkehrssystems klimaneutral ausrichten. Das wird ohne öffentliche Mittel nicht gehen. Und wir müssen massiv in Bildung, Ausbildung und Weiterbildung investieren. Vor allem vor dem Hintergrund der Digitalisierung; die Leute müssen damit umgehen können. Lange dürfen wir nicht mehr warten."
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