Verteilungsgerechtigkeit
Was heißt hier „Mittelschicht“?
In der österreichischen Politik ist immer wieder von der Mittelschicht die Rede. Doch wer gehört da eigentlich dazu?
„Die aktuellen Regierungsverhandlungen treffen die österreichische Mittelschicht ins Mark“, schreibt der Österreichische Haus- und Grundbesitzerbund vor kurzem in einer Aussendung.
Einige Wochen zuvor hatte Mario Kunasek (FPÖ) behauptet, die Mittelschicht sei bereits unter der schwarz-grünen Bundesregierung „unter die Räder gekommen“. Sich für die Mittelschicht einzusetzen, gehört in Österreich zum guten Ton: Entlastet müsse sie werden, gefördert, geschützt.
Wer zu dieser Mittelschicht gehört und wer nicht, wird in der Regel nicht dazugesagt – mit Absicht.
Willkürliche Berechnung
Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff Mittelschicht jenen Teil der Bevölkerung, der in einem sozialen Schichtungsmodell zwischen Ober- und Unterschicht angesiedelt ist. Zur Einteilung können wirtschaftliche, bildungsbezogene, berufsabhängige oder andere Kriterien herangezogen werden.
Die am weitesten verbreitete Definition von Mittelschicht orientiert sich am Medianeinkommen, also an dem Wert, der die Bevölkerung in eine Hälfte mit höherem und eine Hälfte mit niedrigerem Einkommen teilt.
Die Untergrenze des Einkommensbereichs für die Mittelschicht wird dabei in der Regel bei 60 bis 75 Prozent des Medianeinkommens gezogen, die Obergrenze zwischen 150 und 200 Prozent. Wie groß die Mittelschicht ist, hängt also davon ab, wo man diese Einkommensgrenzen setzt bzw. ist – wie der Soziologe Stephan Lessenich sagt – „alles eine Frage der Abgrenzung jener Bevölkerungsgruppe, die man als Mittelschicht bezeichnen möchte“.
Statistik Austria definiert als „mittlere Einkommen“ alle Einkommen zwischen 60 und 180 Prozent des Medianeinkommens. Die Untergrenze entspricht in diesem Modell der Armutsgefährdungsschwelle, die Obergrenze dem Dreifachen davon.
Als armutsgefährdet gilt in Österreich (2023), wer allein wohnend im Monat weniger als 1.572 Euro netto zur Verfügung hat. Wer mehr hat – egal ob 1.600 oder 4.000 Euro im Monat –, ist demnach Teil der Mittelschicht.
Der „Mittelstand“ als Synonym
Neben dem Begriff „Mittelschicht“ wird in politischen Debatten auch gern auf den „Mittelstand“ Bezug genommen.
Der Begriff entstammt der ständischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und wird heute meist zur Bezeichnung von kleinen und mittleren Unternehmen verwendet, also Unternehmen mit zehn bis 249 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von zwei bis 50 Millionen Euro. Dennoch wird der Begriff häufig bewusst synonym zu „Mittelschicht“ verwendet. Damit soll vermittelt werden, dass der Mittelstand und die Mittelschicht dieselben Interessen hätten.
„Das führt dazu, dass sich eine sehr große Wählergruppe angesprochen fühlt, wenn Parteien Maßnahmen für den Mittelstand wie Steuersenkungen (…) ankündigen, egal ob es für den Einzelnen wirklich als Betroffenen zutrifft oder nicht“, erklärt der Politikwissenschafter Peter Filzmaier.
Die wirkliche Trennlinie
Wer von Mittelschicht spricht, zielt aber nicht nur auf die Maximierung von Wählerstimmen ab. Ziel ist es, dass sich die künstliche Trennlinie zwischen der Mittelschicht und „denen da unten“ in den Köpfen der Menschen verfestigt. Denn wer in der Mitte ist, ist zwar nicht oben, aber mit Sicherheit auch nicht unten.
Und solange man nicht ganz unten ist, solange es noch wen gibt, der weiter unten ist, hat man keinen wirklichen Grund, sich aufzuregen oder gar aufzulehnen. Dabei lenkt der Begriff „Mittelschicht“ geschickt von der tatsächlichen Trennlinie in unserer Gesellschaft ab: Nämlich von jener, die zwischen den wenigen, die oben sind, und allen anderen verläuft.
Zieht man als Bestimmungsgröße für die Verteilung nämlich nicht das Einkommen, sondern das Vermögen heran, löst sich die Mittelschicht augenblicklich in Luft auf. Weil nämlich die reichsten fünf Prozent der Menschen in Österreich knapp die Hälfte des Gesamtvermögens besitzen. Die restlichen 95 Prozent der Bevölkerung teilen sich die andere Hälfte des Vermögens.
Wer darüber nicht reden will, redet von der Mittelschicht.