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Erinnerungsfoto der Innsbrucker Buchdrucker zum Streik 1914: sehr viele Männer sitzend und stehend in schwarzen Anzügen und Hüten
ÖGB-Archiv

Erinnerungsfoto der Innsbrucker Buchdrucker zum Streik 1914

Von Katzenmusik und Kollektivverträgen

Zwischen dem Abschluss der ersten Tarif-Übereinkunft im Revolutionsjahr 1848 und der heutigen 98-prozentigen Kollektivvertragsabdeckung liegt die oft dramatische und manchmal erstaunliche Geschichte der Entstehung, Durchsetzung und Einhaltung tausender Kollektivverträge. Diese hat wenig mit dem stets kolportierten Gulasch- und Würstelessen zu tun, aber viel mit Durchhaltevermögen und Sitzfleisch

oegb.at hat mit der ÖGB-Historikerin Marliese Mendel über die Geschichte der Kollektivverträge und des Kollektivvertragsgesetzes gesprochen und von ungewöhnlichen Widerstandsformen und streikfreudigen Schneidergehilfen erfahren. 

oegb.at: Du sagst, jeder Kollektivvertrag hat seine eigene Geschichte. Wie und wann entstand der erste? 

Marliese Mendel: Der erste verbriefte „Kollektivvertrag“, eine Tarif-Übereinkunft, entstand während der 1848er-Revolution in Wien und wurde mit einer ungewöhnlichen Widerstandsform durchgesetzt. Schon im März 1848 setzten die RevolutionärInnen u. a. die Abschaffung der Zensur, die Verabschiedung einer Verfassung, die Absetzung des Staatskanzlers Metternich und die Pressefreiheit durch. 

Die ArbeiterInnen erkannten, dass Solidarität funktioniert und so überreichten Weißnäherinnen, Maurer, Kellner, Schmiede-, Seifensiedergesellen den ArbeitgeberInnen „Promemorias“ (Denkschriften). Darin forderten sie Lohnerhöhungen und Arbeitszeitbegrenzungen.

Auch die Buchdruckergehilfen richteten eine Promemoria an das „löbliche Buchdrucker-Gremium“. Dieses lehnte die Forderungen rundweg ab. Daraufhin spielten die Buchdruckergehilfen vor dem Haus des Gremialsvorstehers auf. Es war kein wohlklingendes Ständchen, sondern ein unmelodischer Lärm, Katzenmusik genannt.

Der Vorsteher knickte ein, trat zurück und sein Nachfolger unterzeichnete im April 1848 die „Tarif-Übereinkunft“ – einen für ganz Wien geltenden Lohntarif. Dieser galt aber nur bis zur Niederschlagung der Revolution am 31. Oktober 1848. Neben allen Errungenschaften verschwand auch die Übereinkunft und einer der Arbeiterführer wurde wegen Besitzes von „umstürzlerischen“ Dokumenten zu acht Wochen Kerker verurteilt. 

Wiener Katzen-Musik. Politisches Tagsblatt für Spott und Ernst mit Karrikaturen. 1848

Haben alle Kollektivverträge solche dramatischen Geschichten? 

Anfangs schon. UnternehmerInnen befürchteten, nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ zu sein und fühlten sich „genötigt“, mit dem Proletariat, sprich den GewerkschafterInnen, zu verhandeln. Es war oft nötig, für den Abschluss und auch für die Einhaltung von Übereinkommen zu demonstrieren, zu streiken oder passive Resistenz zu leisten.

Die ArbeitnehmerInnen waren da durchaus kreativ und hatten ein enormes Durchhaltevermögen. Zwischen den ersten Demonstrationen der Buchdrucker für einen Normallohntarif im Dezember 1893 und der Vertragsunterzeichnung im November 1895 lagen hunderte Versammlungen. 

Im Jänner 1903 traten in Wien rund 3.000 Schneidergehilfen in Streik und erreichten einen Abschluss. Sie lösten damit eine wahre Streikeuphorie unter den Berufskollegen in der ganzen Monarchie aus. 

Eine ganz andere Widerstandsform wählte der Männerchor des Hofoperntheaters – sie weigerten sich auf der Bühne zu singen, bis ihre Löhne aufgebessert wurden. BeamtInnen wiederum setzten die passive Resistenz ein – sie machten einfach Dienst nach Vorschrift. 

Welche Rolle spielten die Gewerkschaften?

Die Gewerkschaften standen aber mehreren Herausforderungen gegenüber. Es wurden nicht alle Streiks gewonnen, was oft zur Auflösung der kleineren Organisationen führte oder eben zu keinem Abschluss. 

Bei erfolgreichen Abschlüssen glaubten die Gewerkschaftsmitglieder oft, dass mit dem Kollektivvertrag all ihre Forderungen erfüllt seien und traten aus ihren Organisationen aus. So schwächten sie die Gewerkschaften und deren Kraft, auch für die Einhaltung der Verträge zu kämpfen. 

ArbeitgeberInnen versuchten immer wieder, dass sie Kollektivverträge nicht einhalten mussten, etwa indem sie die „RädelsführerInnen“, meist Vertrauensmänner und -frauen, entließen. Somit kümmerte sich in den Betrieben oft niemand mehr um die Einhaltung der Verträge. Gleichzeitig verloren die Gewerkschaften mit den entlassenen Vertrauenspersonen wichtige BündnispartnerInnen in den Betrieben. 

Somit kämpften die Gewerkschaften an mehreren Fronten: einerseits mit der hohen Fluktuation der Mitglieder und andererseits mit dem Verlust der Vertrauenspersonen in Firmen und in den Ortsgruppen.

Was enthielten die Kollektivverträge? 

Anfangs enthielten sie Minimallöhne oder Lohnschemata sowie Arbeitszeiten, später kamen Sonn- und Feiertagsregelungen dazu und Anfang des 20. Jahrhunderts Urlaubsanspruch und Weihnachtsremunerationen. Die Kollektivverträge waren zum Teil auch Ersatz für die fehlende Sozialgesetzgebung während der Monarchie

Die für damalige Zeiten sehr wichtigen Klauseln betrafen auch die Gewerkschaftsarbeit. Die Bewegung war noch jung und musste sich erst Gehör verschaffen. Dies gelang mit der Verankerung der Anerkennung der Gewerkschaften und der Vertrauensmänner und -frauen in den Betrieben in den Kollektivverträgen. Für die ArbeiterInnen und Angestellten war vor allem die Klausel wichtig, die besagte, dass sie nicht wegen der Teilnahme an einem Streik gemaßregelt – sprich gefeuert werden dürfen. 

Das Kollektivvertragsgesetz entstand ja nicht von einem Tag auf den anderen? 

Nein. Das Kollektivvertragsgesetz aus dem Jahr 1919 trug ja den sperrigen Namen: „Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge“. Die Kollektivverträge gab es ja schon, auch wenn nicht alle den Ersten Weltkrieg überstanden hatten. Es bestand das Grundgerüst: ArbeitgeberInnenvertretungen und Gewerkschaften und natürlich die Inhalte der Kollektivverträge. 

Aber durch das Kriegsleistungsgesetz wurden viele Betriebe in den Kriegsdienst gestellt und obwohl Kaiser Franz Josef bestimmte, dass die Kollektivverträge weiter gelten sollten, hielten sich viele UnternehmerInnen nicht daran. Die Löhne sanken, während Arbeitszeiten verlängert wurden, und Sonn- und Feiertagsregelungen verschwanden in Schubladen. Im Jahr 1915 beschwerten sich immer mehr Beschäftigte, und auf Druck des Metallarbeiterverbandes wurden zuerst in Wien und dann in den Provinzen Beschwerdestellen eingerichtet – die Vorläuferorganisation der Einigungsämter

Unter dem Eindruck der wachsenden sozialen Unruhen fanden schon während des Krieges Sitzungen der „paritätischen Industriekommission“ statt. Arbeitgeber und Gewerkschafter besprachen nötige Sozialgesetze für die Nachkriegszeit, darunter auch das Kollektivvertragsgesetz

Am 4. November 1918 – acht Tage vor der Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich, verfügte der Textilgewerkschafter und Staatssekretär Ferdinand Hanusch die Einrichtung von Einigungsämtern. Bis zur Verabschiedung des Gesetzes dauerte es noch ein gutes Jahr, bis zum 18. Dezember 1919. 

Was änderte sich unter dem menschenfeindlichen Regime der Nationalsozialisten?

Nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938 trat, neben einer Vielzahl von Gesetzen, auch das Gesetz „zur Ordnung der nationalen Arbeit“, am 29. Juli 1938 in Österreich in Kraft. Das Kollektivvertragsgesetz wurde durch das deutsche Tarifvertragsrecht ersetzt. Der Reichstreuhänder legte von nun an die Arbeitsmindestbedingungen fest. Dessen Entscheidungen waren unanfechtbar.

Was passierte nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Sachen Kollektivverträgen?

Bei der ersten Vertrauensmännerkonferenz der MetallarbeiterInnen am 20. Juli 1945 waren Löhne und Kollektivverträge nur eines von vielen Themen. Trotzdem schlossen sie Ende 1945 die ersten provisorischen Übereinkommen ab, die etwa einen Härteausgleich in Form von Zuzahlungen regeln, aber auch schon Wegzeitenentschädigungen enthalten. Sie sollten bis zum Inkrafttreten des Kollektivvertragsgesetzes gelten.

Erste Verhandlungen über ein Kollektivvertragsgesetz begannen schon kurz nach Kriegsende. Zwei Jahre dauerten die „langwierigen Beratungen, Parteienverhandlungen und mitunter auch recht hitzigen Kämpfe zwischen den verschiedenen Interessensgruppen, bis das Kollektivvertragsgesetz am 26. Februar 1947 vom Nationalrat verabschiedet werden konnte.

Gesetzliche Grundlagen:

  • 1811: Allgemeines Bürgerliche Gesetzbuch regelt u. a. individuelle Lohnverträge 
  • 1859: Gewerbeordnung regelt u. a. Arbeitszeiten für Kinder und Jugendliche und einen minimalen Lohnschutz, Kündigungsgründe und -fristen. Es ist die rechtliche Grundlage für einen freien und individuellen Arbeitsvertrag.
  • 1896: Einführung von Gewerbegerichten und der Gerichtsbarkeit in Streitigkeiten aus dem gewerblichen Arbeits-, Lehr- und Lohnverhältnissen.
  • 1907: Novellen der Gewerbeordnung und des Handlungsgehilfengesetzes regeln, dass Genossenschaften berechtigt sind, für HilfsarbeiterInnen Bestimmungen über den Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit, die Arbeitspausen, die Höhe der Entlohnung, den Zeitpunkt der Auszahlung und die Kündigungsfrist zu verhandeln.
  • 1915: Erlass zur Einrichtung von Beschwerdestellen für ArbeiterInnen, der Vorläuferinnenorganisation der Einigungsämter.
  • 1918: Vollzugsanweisung des deutschösterreichischen Staatsrates zur Errichtung von Einigungsämtern.
  • 1919: Verabschiedung des Gesetzes über die Einrichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge (trat mit 13. Februar 1920 in Kraft).
  • 1934: Nach der Machtergreifung der Austrofaschisten werden die freien Gewerkschaften verboten und deren Vermögen zu Gunsten der ständestaatlichen Einheitsgewerkschaft konfisziert. Auf ArbeitgeberInnenseite werden öffentlich-rechtliche Bünde gegründet. Die Kollektivverträge werden zu Gunsten der UnternehmerInnen geändert.
  • 1938: Nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ersetzte die Deutsche Tarifordnung das österreichische Kollektivvertragsgesetz. Der Reichstreuhänder legte bis Kriegsende 1945 die Arbeitsmindestbedingungen fest. Dessen Entscheidungen waren unanfechtbar.
  • 1947: Am 26. Februar verabschiedete der Nationalrat das „Bundesgesetz über die Regelung von Arbeits- und Lohnbedingungen durch Kollektivverträge und Arbeitsordnungen“.
  • 1974: Das „Bundesgesetz betreffend die Arbeitsverfassung“ – das Arbeitsverfassungsgesetz trat in Kraft. Es beinhaltet das Kollektivs-, Betriebsräte-, Jugendvertrauensräte- und das Mindestlohntarifgesetz.