Zum Hauptinhalt wechseln
Czerny/ÖGB

Die unbeugsame Hilde Seiler

Im Jahr 2015 gab Hilde Seiler der Autorin dieses Artikels ein Interview und darin erzählt sie von ihren „scheußlichen Kindheitserinnerungen”, von ihrer besten Zeit in der Gewerkschaft und von harten Kämpfen – vor allem wenn es um Frauenrechte ging. Ein Artikel mit Originaltönen. 

„Scheußliche Kindheitserinnerungen” 

Als Achtjährige musste sie zusehen, wie alle ihre LehrerInnen über Nacht zu NationalsozialistInnen wurden und wie aus ihrem Vater, einem Sozialdemokraten und Gewerkschafter, ein Wehrmachtsoldat wurde. „Er glaubte 1943, dass der Krieg nicht mehr lange dauern würde und die Sozialisten bald wieder die Demokratie aufbauen werden“, erzählt Seiler. Erlebt hat er es nicht mehr, er wurde 1944 als vermisst gemeldet. 

Im Frühjahr 1945 verlor sie, ihre Mutter und ihr Bruder bei einem Bombenangriff ihre Wohnung – es blieb nur eine Tür übrig. In den folgenden Monaten litten sie Hunger und mussten bei Nationalsozialisten zur Untermiete wohnen. „Mit denen wollten wir nichts zu tun haben“, sagt Seiler. 

„Meine Mutter hatte nichts außer zwei Aktentaschen und wir nichts außer das, was wir am Leib trugen. Ich weiß bis heute nicht, wie es meine Mutter geschafft hat, dass wir nicht in die Fabrik arbeiten gehen mussten, sondern Lehren absolvieren konnten, dass wir was zum Anziehen hatten und so wenig Hunger litten wie möglich. Sie war eine starke Frau und trotz all der Schwierigkeiten immer fröhlich – und sie war mein großes Vorbild“, erzählt Seiler.

Gewerkschaftsbeitritt mit Hürden

Zu Kriegsende war Seiler 15 Jahre alt. Sie suchte Arbeit und fand eine Lehrstelle als Bürokauffrau bei einem Taxiunternehmen mit mehr als 100 Fahrzeugen. Sie fragte ihren Vorgesetzten: „Wo kann ich der Gewerkschaft beitreten?“ – „Gewerkschaft haben wir keine“, antwortete er. Also ging sie im Winter 1945 zum Deutschmeisterplatz in Wien und versuchte, Mitglied bei der Gewerkschaft der Angestellten in der Privatangestellten (GPA) zu werden. Es sollten jedoch mehrere Monate vergehen, bis es gelang festzustellen, zu welcher Branche Taxiunternehmen gehörten. Am 1. Mai 1946 wurde sie dann nach vielen Besuchen in der GPA Mitglied

Gewerkschafterin

Im Jahr 1957 erzählte ihr der Textilgewerkschafter Friedrich Hofmann von einer offenen Stelle in der Gewerkschaft der Arbeiter in der chemischen Industrie (GdC). Seiler überlegte, ob sie den Job annehmen sollte, würde sie doch statt 2.800 nur 1.500 Schilling pro Monat verdienen. Schließlich entschied sie sich doch für die Gewerkschaftsarbeit. Sie sollte dort Statistiken machen, Betriebe nach ihrer Größe auflisten und die Mitgliederevidenz sowie die Kassa und die Buchhaltung betreuen. Doch schon bald schickte sie die damalige provisorische Vorsitzende des Frauenausschusses, Anna Tomecek, zu den Sitzungen und Veranstaltungen der ÖGB-Frauen. Und im Jahr 1968 wurde Seiler die erste Frauensekretärin der GdC. 

Seiler begann die zumeist ungelernten bzw. angelernten Arbeiterinnen und die Hilfsarbeiterinnen zu organisieren, gründete in jedem Bundesland eine Frauengruppe und es gelang ihr, deren Vertreterinnen in den Landesausschüssen einzubinden. Bei Frauenversammlungen sagte sie den Frauen, dass noch kein Betriebsrat vom Himmel gefallen sei. „Ich musste ihnen die Kraft geben, sich zu engagieren“, erzählt sie.

Frauenlöhne und die Männer 

1962, nach dem Streik der MetallarbeiterInnen, verschwanden die ersten Frauenlöhne aus den Kollektivverträgen. Auch die GdC begann diesbezügliche Verhandlungen. „Es war schwierig, aber es gelang uns, die Frauenlöhne aus den Kollektivverträgen zu streichen. Die Männer waren eigentlich beleidigt. Glaubten sie doch, dass sie die Erhalter der Familien seien und deshalb ein Recht hätten, mehr zu verdienen. Bei Semperit sagten die Männer: „Dass die Mitzi gleich viel verdient wie ich, das geht nicht.“

ÖGB-Frauenvorsitzende und ÖGB-Vizepräsidentin Hilde Seiler spricht beim 8. LUGA-Frauenkongress (1989)
Hilde Seiler beim 8. Frauenkongress der LUGA (1989) ÖGB

Frau Landessekretär und Frauensekretärin

Ab dem Jahr 1971 war sie auch Wiener Landessekretärin. „Anfangs war es schwierig, mich durchsetzen, aber es wurde zu meiner schönsten Zeit während meines Gewerkschaftslebens. Ich war viel in den Betrieben unterwegs, rechtfertigte erhöhte Mitgliedsbeiträge und drehte bei mancher Betriebsversammlung ordentlich auf.“ 

Sie sprach mit den Arbeiterinnen, sagte ihnen, dass es nicht stimmt, dass sie keine Ausbildung bräuchten, weil sie heiraten und Kinder kriegen würden. Sie setzte sich dafür ein, dass mehr Frauen als Funktionärinnen in der Gewerkschaft mitarbeiten, dass sie Kurse und Informationstagungen besuchen. „Auch wenn die Partner davon meist nicht allzu begeistert waren, dass sie ein Wochenende lang auf die Kinder schauen mussten“, sagt Seiler.

Gewerkschaftsintern warnte sie immer wieder vor dem steigenden Stress am Arbeitsplatz, erfuhr von der monotonen Akkordarbeit und hörte von Frauen, dass derer einzige Freude in der Woche die freien Tage und der Zahltag sei. Es wurde eines ihrer Hauptziele, die Arbeitswelt humaner zu gestalten. 

Doch die Durchsetzung war schwierig, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Gewerkschaft Mitglieder verlor. Rationalisierungen und Produktbereinigungen führten zum Verlust von Frauenarbeitsplätzen. Waren 1971 noch 16.267 Frauen Mitglied der GdC, so waren es bei ihrer Pensionierung 1991 nur noch 10.051. Die Arbeitslosenzahlen stiegen. Waren 1981 noch 31.286 Frauen arbeitslos, so waren es 1985 bereits 55.292. Als probates Gegenmittel sah Seiler die Einführung der 35-Stunden-Woche.

Hilde Seiler am Redner_innenpult bei ÖGB-Bundeskongress (1987)
ÖGB-Frauenversitzende und ÖGB-Vizepräsidentin Hilde Seiler ÖGB

Die scheußliche Erkenntnis

Im Jahr 1983 wurde Seiler zur Vorsitzenden der ÖGB-Frauenabteilung und zur Vizepräsidentin des ÖGB gewählt und stand nach einigen erfolgreichen Jahren ihrer wahrscheinlich größten Herausforderung ihrer Karriere gegenüber. Seiler, Gewerkschafterinnen und 1,2 Millionen Arbeitnehmerinnen erschütterte die Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 6. Dezember 1990: Das ungleiche Pensionsantrittsalter von Frauen und Männern sei verfassungswidrig.

Seiler und 15 Spitzenfunktionärinnen formulierten innerhalb weniger Tage einen Forderungskatalog, die Idee des Gleichbehandlungspaktes war geboren. Sollte das Frauenpensionsantrittsalter angehoben werden, müssen Frauen in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt gleichgestellt werden.

Gleichzeitig mobilisierten die ÖGB-Frauen gegen die Anhebung des Frauenpensionsalters und Seiler übergab beim 11. ÖGB-Frauenkongress im Jänner 1991 Bundeskanzler Franz Vranitzky eine überdimensionale Postkarte – eine mit Postkarten von über 70.300 berufstätigen Frauen. Darauf standen die Forderungen der Gleichstellung der Frauen und Männer – erst dann dürfe das Frauenpensionsantrittsalter angehoben werden. 

Der Abschied

Nachdem Seiler Vranitzky die Postkarten übergeben hatte, wurde sie als Frauenvorsitzende verabschiedet. Renate Dittmar, die langjährige Frauensekretärin der GdC, hielt eine Rede: „Du hast in deiner beruflichen Karriere mehr als 30 Funktionen innegehabt. Du hast manchen Stein ins Rollen gebracht, so manchen Brocken fortbewegt, bist auf die Barrikaden gestiegen, hast dich nicht unterkriegen lassen.

P.S.: Seilers Nachfolgerin Irmgard Schmidleithner übernahm die Verhandlungen. Als diese Anfang 1992 stockten, schickten die Gewerkschafterinnen täglich rund 200 Pakete mit ihren Forderungen an den Generalsekretär der Bundeswirtschaftskammer. Nach langen und zähen Verhandlungen waren die Frauen erfolgreich: Am 14. Oktober 1992 wurde der Gleichbehandlungspakt abgeschlossen.

Infobox:
Hilde Seiler (geborene Kainz)
Geboren: 6. April 1931 in Wien
Gewerkschaftsbeitritt: 1. Mai 1946 
Erlernter Beruf: „Industriekaufmann“ 1968 – 1983
Gewerkschaftliche Funktionen: 
1955 – 1957: „Betriebsratsobmann“ bei WITAX
1957 – 1968: Angestellte bei der Gewerkschaft der Chemiearbeiter
1966 – 1969: Betriebsrätin der Gewerkschaft der Chemiearbeiter 
1968 – 1983: Frauensekretärin der Gewerkschaft der Chemiearbeiter
1971 – 1983: Sekretär der Gewerkschaft der Chemiearbeiter 
1983 – 1991: Vorsitzende der ÖGB-Frauenabteilung und Vizepräsidentin des ÖGB
Weitere Funktionen:
1988 – 1994: Nationalratsabgeordnete 
u. a.: Kammerrätin der AK-Wien, Vorstandsmitglied der Wiener Gebietskrankenkasse, Vorsitzende des Berufsförderungsinstituts