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Elisabeth Mandl

Ist das Leben fair?

Fünf Minuten nach dem vereinbarten Treffpunkt eilt Maria S. in das Hinterzimmer einer kleinen Konditorei in Payerbach. Nahe des Rax-Ufers, wo zu Kaisers Zeiten die feine Wiener Gesellschaft Erholung suchte, hat die 60-Jährige nur kurz Zeit zum Verschnaufen. In wenigen Stunden muss sie zur zweiten Arbeitsstelle des Tages. Jeden Abend von Montag bis Freitag macht sie für 10 Euro die Stunde die Praxis eines Zahnarztes im Nachbarort sauber. In zwei Monaten tritt sie nach 45 Arbeitsjahren eine Mindestpension an. 

Damit sich das Studieren ausgeht, lebt Hassan K. mit 24 Jahren noch zu Hause, wo er sich mit seinem jüngeren Bruder ein Zimmer teilt, wie er uns in einem Wiener Kaffeehaus erzählt. Sein Vater kam ohne Ausbildung aus Tunesien nach Österreich, die in der Slowakei geborene Mutter ist diplomierte Krankenschwester, aber seit der Krise arbeitslos. Sorgen um seine Zukunft macht er sich trotzdem keine. 

Harald B. treffen wir nach Feierabend in seiner Wohnküche. Der Angestellte im mittleren Management ist „ein Produkt der Generation Kreisky“, wie er lachend über sich selbst sagt. Der Vater Staplerfahrer, die Mutter Teilzeit-Sekretärin am Magistrat in Wels – seine Schulbildung hätten sie sich ohne Gratisschulbücher und Schülerfreifahrt nicht leisten können. Als Erster in der Familie maturierte er. 

Wie schafft man Gerechtigkeit? 

Die Statistiken zu Vermögen und Gerechtigkeit in Österreich sind schnell gelesen. Aber was heißt das für das Leben der Menschen? Julia Hofmann, Expertin für soziale Ungleichheit und Verteilungsfragen in der Arbeiterkammer (AK), die auch an der Hochschule lehrt, sagt: „Wenn ich meine Studierenden frage, sind sie überzeugt, dass es in Österreich sehr gerecht zugeht.“ Das wundert Hofmann nicht: Schließlich gehe es den meisten Menschen nicht schlecht, die Quote der Armutsgefährdeten bliebe mit 14 Prozent seit Jahren konstant. „Dabei hat sich im Bereich der sozialen Gerechtigkeit in den letzten 30 Jahren nicht viel getan“, analysiert die Soziologin. „Schauen wir aber darauf, wie unfair Vermögen verteilt ist, können es viele Studierende nicht glauben. Im EU-Vergleich landet Österreich auf dem viertletzten Platz.“ 

„Umverteilung ist möglich, man muss sie nur wollen“

Was für Umverteilung sorge und viele Menschen vor Armut schütze, sei der Sozialstaat, führt Hofmann aus. Doch er ändere wenig an der großen Vermögensungleichheit im Land. Schließlich besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung fast 40 Prozent des Vermögens. Eine Reichensteuer sieht die Expertin als unumgänglich. „Wie lange werden wir es uns noch leisten können, dass ein Teil der Gesellschaft zur Solidargemeinschaft sehr wenig beiträgt?“, fragt sie. Denn nur ein gut ausgebauter Sozialstaat sei ein Garant für sozialen Ausgleich. 

Fragt man unsere InterviewpartnerInnen, wie sie für mehr Gerechtigkeit sorgen würden, ist die Antwort klar. „Eine Umverteilung von oben nach unten ist möglich, man muss sie nur wollen“, ist sich Harald sicher. Die Einnahmen sollten seiner Meinung nach für Sozialleistungen wie Heizkostenzuschüsse oder Ausgleichszulagen verwendet werden. Inflation und Preissteigerungen bei Mieten, Lebensmitteln und Energie wurden seiner Meinung nach verschlafen. „Nach dem Robin-Hood-Prinzip“ würde Hassan jenen etwas nehmen, die sehr viel haben. Das Geld würde er in Bildung investieren. Jeder Euro, den man dort investiere, komme zehnfach zurück, ist sich der Student sicher. 

Für mehr Gerechtigkeit: Millionärssteuer

Der ÖGB kämpft für mehr soziale Gerechtigkeit im Land. Damit auch die Reichsten ihren gerechten Beitrag leisten, schlägt er eine Millionärssteuer ab einer Million Euro vor.

Alles dazu liest du hier!

Den Kindern soll es einmal besser gehen

„Dass jeder seines Glückes Schmied ist, damit kann ich nichts anfangen“, sagt Maria. Für ihre Eltern war klar, dass die Kinder arbeiten müssen, entweder am eigenen Bauernhof oder im Ort. Mitspracherecht hatte sie dabei keines. Ihren Töchtern stellte die Niederösterreicherin deswegen die Wahl der Ausbildung frei – die Ältere besuchte die Uni und wurde Wirtschaftswissenschafterin, die jüngere lernte Friseurin. Dass die beiden glücklich sind, ist Maria am wichtigsten. 

Maria S. im Kaffeehaus in Payerbach
Maria S. wurde auf einem Bauernhof in Oberösterreich geboren und hat ihr Leben mit Arbeit und Kindererziehung verbracht. Die 60-Jährige steht knapp vor der Pensionierung – in der sie weiterhin arbeiten wird. Elisabeth Mandl

Anders als Maria konnte Harald seine Eltern vom Gymnasium überzeugen. Als Kind einer Arbeiterfamilie wäre er damit noch 2021 eine Ausnahme. Vergleicht man VolksschülerInnen, ist es für Kinder von AkademikerInnen doppelt so wahrscheinlich, eine AHS zu besuchen, wie für gleich begabte Kinder von Eltern mit Pflichtschulabschluss. 

„Ich wollte nach der Maschinenbau-HTL arbeiten, aber meine Eltern bestanden darauf, dass ich studiere“, erzählt der 24-jährige Hassan. Bildung ist ein hohes Gut in der Familie, die in Ottakring lebt – „einem klassischen Arbeiterbezirk“, wie er stolz sagt. Seinen Alltag finanziert er sich unter anderem als Schachlehrer, im Monat stehen ihm rund 1.000 Euro zur Verfügung. Dass er später einmal reich sein könnte, hält der Politikwissenschaft-Student für sehr unwahrscheinlich. „Es ist auf jeden Fall leichter, arm zu werden als reich“, ist er sich sicher. 

„Arm zu werden, kann immer passieren“

Auch Harald, IT-Projektmanager in einem öffentlichen Unternehmen, glaubt, dass er eher arm als reich werden könnte: „Ich bin mir ganz sicher, dass man in Österreich nicht reich werden kann, wenn man nicht erbt oder im Lotto gewinnt. Arm zu werden, kann immer passieren.“ Dass ein Schicksalsschlag das Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellen kann, weiß der 45-Jährige. Mit 24 Jahren verlor er seine Eltern beim Seilbahnunglück von Kaprun. Trotz Waisenpension musste er arbeiten, um weiter studieren zu können. Obwohl er sich angestrengt hat, schloss er sein Studium nicht ab, war immer wieder arbeitslos. „Da denkst du nur daran, genug Geld für die Miete zu verdienen. Es gab Phasen, in denen ich Existenzängste hatte. Vom Arbeitslosengeld nach Teilzeit kann man einfach nicht leben“, erzählt er. 

Warum das Arbeitslosengeld erhöht werden muss und nicht zum Nichtstun verführt

Der ÖGB fodert eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes von aktuell 55 auf 70 Prozent des vorigen Einkommens.

Erfahre mehr!

Durch „Zufall und Glück“ ergaben sich immer wieder neue Stellen, heute stehen ihm und seiner Frau gemeinsam monatlich mehr als 4.000 Euro zur Verfügung. Dass es einmal dazu kommen würde, dass er in einer eigenen Wohnung lebt, hätte Harald sich als Kind nicht gedacht. Damals lebte er mit seinen Eltern „nicht in einfachen Verhältnissen, sondern in Armut“, wie er festhält. 

Harald B. lacht
Harald B. weiß, wie schnell ein Schicksalsschlag das Leben auf den Kopf stellen kann. Den Wunsch seiner Eltern konnte er trotz allem erfüllen: Es geht ihm heute besser als ihnen damals. Elisabeth Mandl

Wenn Harald von seinem 40-Stunden-Job nach Hause kommt, geht Maria wieder in die Arbeit. Auch sie kennt Armut – obwohl sie arbeitet, seit sie sich erinnern kann. Nach der Geburt der Kinder konnte sie aufgrund der Arbeitszeiten nicht in den Einzelhandel zurück. Die Alleinerzieherin schlug sich zunächst als Reinigungskraft und mit Gelegenheitsjobs durch. Die 40-Stunden-Anstellung, die sie schließlich fand, musste sie vor einigen Jahren wegen eines Burn-outs aufgeben. In einem Alter, in dem sie sich eher der Rückengymnastik zuwenden sollte, stapelt die 60-Jährige eigenhändig das Holz auf, mit dem sie ihre kleine Eigentumswohnung, die sie sich zusammensparen konnte, heizt. 

ÖGB fordert Winterpaket

Der ÖGB fordert die Regierung auf, einkommensschwache Haushalte mit einem Winterpaket in Höhe von 120 Millionen Euro zu unterstützen.

 

Hier geht's zu allen Forderungen!

„Ich habe zwei Kinder aufgezogen. Zählt das nichts?“

In zwei Monaten, wenn die Mutter zweier Töchter pensioniert wird, wird sie über die Mindestpension nicht hinauskommen. „Ich bin 60 Jahre alt und habe mein Leben lang gearbeitet. Ich habe vielleicht nicht genug eingezahlt, aber was ist mit den beiden erwachsenen Kindern, die ich aufgezogen habe, die jetzt einzahlen? Zählt das nichts?“, ärgert sie sich. 

Maria geht es wie vielen Frauen in Österreich. Während Pensionisten eine monatliche Durchschnittspension von rund 2.000 Euro 14-mal im Jahr beziehen, sind es bei Pensionistinnen im Schnitt nur rund 1.200 Euro, also um 42 Prozent weniger. Im EU-Vergleich liegt Österreich bei dieser Pensionslücke zwischen den Geschlechtern besonders schlecht – in nur drei Ländern ist sie noch größer. 

Das fordert der ÖGB zur Bekämpfung des Pension Gap
  • Höhere Einkommen und mehr Vollzeitarbeitsplätze für Frauen 
  • Bessere und längere Anrechnung der Kindererziehungszeiten
  • Rechtsanspruch auf Gratis-Betreuungsplatz für jedes Kind ab dem 1. Lebensjahr
  • Umfassende Berufsorientierung und Aufbrechen geschlechtsspezifischer Rollenbilder bei der Berufswahl
  • Spezielle arbeitsmarktpolitische Förderung für Frauen (mindestens 50 Prozent des AMS-Budgets)
Alles zum Schließen der Pensionslücke

Eine Anhebung des Pensionsantrittsalters für Frauen, wie es ab 2024 kommen soll, hilft den meisten Frauen nicht, erklärt AK-Expertin Hofmann. „Männer heben vielleicht Steine, aber Frauen heben Menschen. Auch wenn man körperliche Arbeit eher mit Männerarbeit verbindet, ist die Gesundheit von Frauen in Branchen wie Pflege oder Gastronomie stark belastet.“ Laut WIFO geht mehr als die Hälfte der unselbstständig beschäftigten Frauen (ohne Beamtinnen) nicht direkt aus einem Beschäftigungsverhältnis in die Alterspension. 

„Was Frauen helfen würde, wären ein Gratiskindergarten ab dem ersten Geburtstag, eine Anhebung der Anrechenbarkeit von Kindererziehungszeiten auf die Pension von vier auf acht Jahre und natürlich gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“, sagt ÖGB-Pensionsexpertin Dinah Djalinous-Glatz. 

„Es ist erstaunlich, wie langsam es bei der Gleichberechtigung vorwärtsgeht“, sagt Julia Hofmann mit Blick auf die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen. Laut Berechnungen des Europäischen Gewerkschaftsbundes erreichen wir die Schließung der Einkommensschere erst im Jahr 2052. 

Hurra, nur noch 31 Jahre bis zur Lohngleichheit!

2052 wird es die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen geben. Es muss also noch eine ganze Generation von Frauenrechtskämpferinnen für die Schließung der Einkommensschere streiten.

Hier findest du spannende Details aus der Geschichte um fairen Lohn für Frauen!

„Du kannst nur gewinnen, wenn ein anderer verliert“

Hassans Eltern verloren beide in der Coronakrise ihre Stellen. Seinen Teilzeitjob in einer großen Fast-Food-Kette gab er freiwillig auf, sobald er als Schachlehrer genug verdiente. „Viele meiner Kollegen hatten diese Möglichkeit nicht.“ In dem Restaurant auf der Mariahilfer Straße, in dem Hassan im Service arbeitete, werkten in der Küche vor allem afghanische Staatsbürger mit anerkanntem Asylstatus. „Das ist eine völlig andere Lebensrealität. Für sie ist eines der großen Ziele ein Führerschein, ich habe den neben der Schule einfach so gemacht. Grundlegende Dinge, die wir für selbstverständlich halten, werden für viele Menschen praktisch unerreichbar gemacht“, sagt er. „Das zwingt sie in prekäre Arbeitsverhältnisse, die sie zermürben.“ 

Mitbestimmung im ÖGB

Vor fast 20 Jahren erstritten mutige GewerkschafterInnen das passive Wahlrecht für ArbeitnehmerInnen ohne Staatsbürgerschaft. Seither sind unzählige von ihnen BetriebsrätInnen oder PersonalvertreterInnen.

Lies hier, wie die Gewerkschaft mehr Mitbestimmung erkämpft hat!

Dass Österreich ungerecht ist, glaubt der junge Wiener trotzdem nicht. Er ist überzeugt, Großes erreichen zu können – „und wenn ich scheitere, kann ich wenigstens sagen, ich habe es versucht“. Er glaubt fest, dass er seines Glückes Schmied ist. Aber: „Du kannst nur gewinnen, wenn ein anderer verliert“, räumt er ein. Das bestätigt Sozialwissenschafterin Hofmann. „Sozialer Aufstieg für den Einzelnen macht eine Gesellschaft als Ganzes nicht gerechter“, mahnt die Expertin ein. „Das Ziel muss sein, dass alle am Ende des Lebens zurückschauen und glücklich sein können“, so Hofmann, „damit nicht die einen ein gutes Leben auf Kosten der anderen haben.“ 

Hassan H. stützt den Kopf in die Hände
Hassan K. steht am Anfang seines Berufslebens. Der 24-jährige Student glaubt fest daran, dass er alles erreichen kann, wenn er nur hart genug dafür arbeitet. Elisabeth Mandl

Familie, Gesundheit und ein bisschen Geld fürs Leben

Maria lacht, wenn man sie fragt, was sie sich vom Leben noch wünscht. „Einen Mann, der mich wirklich schätzt, für einen schönen Lebensabend zu zweit.“ In der Pension will sie lernen, wie man mit Computern umgeht. „Einen Tag Sport, einen Tag ein Ehrenamt und drei Tage zum Arbeiten, damit ich mir meine Spompanadeln leisten kann“, plant sie ihre Zukunft. 

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Schau vorbei!

Für den 35 Jahre jüngeren Hassan bedeutet ein gutes Leben, „gut und ehrlich zu handeln“. Wenn er an seine Zukunft denkt, sieht er „eine Familie, vielleicht eine Eigentumswohnung“ und eine Tätigkeit, in der er etwas verändern kann. Als Nationalratsabgeordneter möchte er einmal für mehr Gerechtigkeit sorgen. Soziale Gerechtigkeit, niedrige Mieten und hohe Löhne wären ihm genauso ein Anliegen wie ein gerechtes Staatsbürgerschaftsrecht. 

Harald wähnt sich heute sehr glücklich – auch wenn ihn der Weg dorthin einiges gekostet hat. „Wäre es anders gekommen, wäre ich heute nicht hier“, weiß er und schaut sich in der gemütlichen Wohnung um. Er wünscht sich, dass „es so bleibt, wie es ist“. Was für ihn ein gutes Leben bedeutet? „Freizeit und ein bisschen Geld, um sie zu genießen, eine glückliche Partnerschaft, gute FreundInnen – das alles bedeutet Glück.“

ERZÄHL UNS DEINE GESCHICHTE!

Musstest du dich in deinem Leben schon einmal durchkämpfen? Hast du Kinder großgezogen und jetzt fehlen dir die Zeiten für deinen Pensionsanspruch? Fragst du dich, warum Reichtum so ungleich verteilt ist? Und wird es deinen Kindern einmal besser gehen können? Schicke uns ein Mail an umfrage@oegb.at mit dem Betreff „Ist das Leben fair?“ und erzähle uns von deinen Erfahrungen. Ausgewählte Mails veröffentlichen wir, selbstverständlich anonym (!), in unserem wöchentlichen Newsletter.

 

 

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