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Im Mai 1893 fand in Österreich der erste Frauenstreik statt
Im Mai 1893 fand in Österreich der erste Frauenstreik statt SPÖ

Gewerkschaftsgeschichte

1893: Der erste Frauenstreik

Im Mai 1893 geschah das Undenkbare, erstmals streikten nur Frauen für bessere Arbeitsbedingungen.

Die Zeitungen verkündeten im Mai 1893 eine Sensation: „Das zarte Geschlecht streikt!“ „Frauen rütteln an ihren Sklavenketten“, „Frauen verlangen die Verbesserung ihrer bisher menschenunwürdigen Existenz.“ Der erste große Frauenstreik in Österreich begann mit einer mutigen Frau.  Amalie Ryba (verh. Seidel) wusste, was Armut, Hunger und Trauer bedeuten. 13 ihrer Geschwister starben wegen der schlechten medizinischen Versorgung, der elenden Wohnung und des steten Lebensmittelmangels. Um zum Familienbudget beizutragen, brach Amalie mit zwölf Jahren die Schule ab, begann im Jahr 1888 als Dienstmädchen zu arbeiten und wechselte später als Packerin in das Magazin einer Appreturfabrik. Dort organisierte sie mit nur 17 Jahren den ersten Frauenstreik der Monarchie. Ein zu dieser Zeit „undenkbares“ Unterfangen.

Amalie Ryba (verheiratete Seidel) in Jugendjahren
Amalie Ryba (verheiratete Seidel) in Jugendjahren um 1890 Adelheid-Popp-Buch

 

Müde Frauen

Die Arbeiterinnen hatten an den Ersten-Mai-Feierlichkeiten teilgenommen und davon angespornt hielt Amalie am nächsten Tag in der Fabrikhalle eine Rede: Sie forderte ihre Kolleginnen auf, der Gewerkschaft beizutreten, nur so könnten die Verhältnisse in der Fabrik verbessert werden. Sie sprach zu müden, blassen Frauen und Mädchen mit tief eingesunkenen Augen, die jeden Tag in der bis zu 60 Grad Celsius heißen Fabrik ohne jegliche Ventilation Textilien mit chemischen Stoffen bearbeiteten. Alle hörten Amalie gebannt zu, so dass niemand bemerkte, dass auch der Chef zuhörte. 

Als Amalie an ihren Arbeitsplatz im Magazin zurückkehrte, sagte man ihr, dass im Comptoir ihr Arbeitsbuch bereit läge. Eine Umschreibung dafür, dass sie gekündigt worden war. Selbst an ihrem Entlassungstag musste sie noch Überstunden machen. 

Frauenversammlung

Als sie endlich zu Hause ankam, sah sie Polizei vor dem Haustor stehen. Im Hof warteten ihre Kolleginnen aus der Fabrik. Sie riefen ihr zu, dass sie die Entlassung nicht hinnehmen würden, und beschlossen hatten zu streiken. Amalie stieg auf einen Hackstock und hielt wieder eine Rede. Sie sagte: „Wenn ihr schon streiken wollt, dann sollten wir mehr verlangen als nur meine Wiederaufnahme.“ Die Frauen berieten über ihre Forderungen und trugen sie am nächsten Tag der Geschäftsleitung vor: Sie verlangten die Wiedereinstellung von Amalie, höheren Lohn, Arbeitszeitverringerung von 13 auf zehn Stunden täglich und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Chefbüro bei Meindl und Schönbach, 1939
Chefbüro bei Meindl und Schönbach, 1939 ÖGB-Archiv

Amalie wartete vor der Fabrik auf die Entscheidung. Der Chef weigerte sich, sie wieder einzustellen oder den Zehnstundentag einzuführen. Daraufhin verließen die Arbeiterinnen geschlossen die Fabrik. Der erste Frauenstreik Österreichs begann. 

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Der erste Frauenstreik beginnt

Sie versammelten sich in einem nahegelegenen Gastgarten und Amalie informierte die Frauenrechtskämpferin Adelheid Dworak (verh. Popp). Diese organisierte am gleichen Nachmittag auf einer Wiese in Meidling die erste Versammlung. Es gelang ihr, nicht nur diese, sondern auch die folgenden Versammlungen der Frauen in legale Bahnen zu lenken, und sie betreute die streikenden Frauen während des dreiwöchigen Ausstandes, dem sich auch Arbeiterinnen aus drei anderen Fabriken angeschlossen hatten. 

Arbeiterinnen kommen aus einer Tabakfabrik
Arbeiterinnen kommen aus einer Tabakfabrik unbekannt

 

Der Streik von rund 600 (andere Quellen sprechen von 700) Frauen erregte viel Aufmerksamkeit und führte auch dazu, dass Gewerbeinspektoren die Arbeitsbedingungen in den bestreikten Fabriken überprüften. Die Polizei hingegen notierte die Namen der Frauen und berittene Polizisten griffen bei Demonstrationen ein, was wiederum zu Tumulten führte. Einige Frauen wurden verhaftet und vor Gericht gestellt. Während die bürgerliche Presse beklagte, dass nun auch die Arbeiterinnen „aufgehetzt“ seien, war die Sympathie der Bevölkerung auf der Seite der Streikenden: Spender:innen brachten ihnen Geld, Kleidung und Lebensmittel.

Erfolgreiches Ende 

Unter Vermittlung des Gewerbeinspektors wurden am 16. Mai die Verhandlungen mit den streikenden Arbeiterinnen fortgesetzt und „einem günstigen Resultate zugeführt“: Gewährung der zehnstündigen Arbeitszeit, an Feiertagen wird nur von sieben bis zwei Uhr gearbeitet, aber drei Viertel des Tages bezahlt, jede Überstunde wird mit 50 Prozent über die Normal-Arbeitsstunde vergütet. Keine der Streikenden wird entlassen, die bereits Gekündigten wieder aufgenommen.

Dem erfolgreichen Streik folgten viele mehr: Die Frauen legten in Bleichereibetrieben, in Jute- und in Lampenfabriken die Arbeit nieder. Amalie Seidl machte Karriere als Gewerkschafterin und Politikerin. Sie blieb stets ihrem Motto „Man kann unseren Vormarsch aufhalten, uns zurückschlagen, aber man kann uns nicht besiegen“.